Gerettet und diszipliniert – zur Ambivalenz der Vernunft zwischen Selbstbefreiung und Zucht
Abstract
Der Artikel identifiziert ein bisher unbeachtetes Narrativ in der Kritik der reinen Vernunft: die Jungfrau in Nöten. Kant verwendet die Trope, um seine erste Kritik auf einer narrativen Ebene zu motivieren. Die Vernunft wird metaphorisch als hochwohlgeborenes, weibliches Subjekt dargestellt, das schuldlos in eine Zwangslage gerät, aus der sie sich selbst nicht befreien kann. Ein Held rettet sie, allerdings nicht durch Befreiung, sondern durch Disziplin. Der Beitrag untersucht nach einer Methodenreflexion, was es bedeutet aus der pluralistischen Perspektive der Gegenwart philosophisch über Kant zu arbeiten, die Parallelen zwischen dieser populären Trope und der Erzählung der ersten Kritik und argumentiert, dass Kants Wahl dieses Motivs auf kulturelle und politische Vorurteile zurückzuführen ist, die Kant selbst in den Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Schöne und das Erhabene vertritt. Diese Erzählung stimmt zwar mit Kants Ziel überein, die Philosophie als strenge Wissenschaft zu etablieren. Sie marginalisiert jedoch das ebenfalls vorhandene konstruktive metaphysische und progressive Potenzial von Kants Konzeption des höchsten Vermögens als hermeneutische und orientierende Fähigkeit und als Mittel eines universellen kritischen Denkens.