CON-TEXTOS KANTIANOS.

International Journal of Philosophy N.o 5, Junio 2017, pp. 460-464

ISSN: 2386-7655

Doi: 10.5281/zenodo.807248


Klugheit und die Fähigkeit zur Bildung von Ideen


Prudence and the Ability to Build Up Ideas


KINGA KAŚKIEWICZ


Nicolaus Copernicus Universität, Toruń, Poland


Rezension von: Claudia Graband, Klugheit bei Kant, Berlin/Boston/ De Gruyter, 2015, 306 S. ISBN 978-3-11-043779-9

Die Klugheit verfügt über keinen eindeutigen Sinn in der Philosophie von Kant. In den Vordergrund tritt die Bedeutung, die wir in den Schriften finden, die der praktischen Kant- Philosophie gewidmet sind. Dort wird die Klugheit als eine Fähigkeit zur Wahl von Mitteln verstanden, die dem wirksamen Erzielen der Glückseligkeit durch den Menschen (5:126) dienen, also gewissermassen einer besonderen Geschicklichkeit in der Empfangsart von hypothetischen Imperativen, die darauf ausgerichtet sind egoistische Ziele zu erreichen (4:416).

Die Autorin vermeidet jedoch das einseitige und eingeschränkte Verständnis der Klugheit als einer ausschliesslichen Zweckbestimmungskompetenz und macht auf die Bedeutungsnuancen dieses Begriffes in anderen Schriften von Kant und ihre Anwendung in anderen Kontexten aufmerksam. Auf diese Art und Weise richtet sich die Bearbeitung von Claudia Graband (ausser der selbstverständlichen Konfrontation von Klugheit und Geschicklicheit) auf das grundsätzliche Ziel der Klugheit, also die Glückseligkeit. Die Untersuchungen nehmen einen desto breiteren Kreis ein und umfassen den Inhalt der Kritik



[Recibido: 13 de abril de 2017

Aceptado: 29 de abril de 2017]

der Urteilskraft. Dadurch wird der Grundstein zur Rekonstruktion einer eventuellen

„Theorie der Klugheit”, des Systems der Urteile der Klugheit gesetzt.

Besonders interessant sind die Erwägungen, welche in dem dritten Kapitel („Die Idee der Glückseligkeit”) enthalten sind. Die Autorin meint, dass es lohnenswert ist nicht auf die transzendentale Idee des Verstandes zurückzugreifen, sondern auf die Kunst der Ideen- Bildung selbst, welche in der reinsten Form in der Tätigkeit eines Künstlers und Genies sehbar ist. Die ästhetischen Ideen eignen sich nämlich am besten dafür, um den Prozess der Bildung der Glückseligkeitsidee darzustellen. Das Entstehen von ästhetischen Ideen ist durch die Verbindung der Vorstellungskraft mit dem Verstand möglich, welche bei gewissen Begebenheiten es uns erlauben die Wirklichkeit durch das Prisma der

„Zweckmässigkeit ohne Zweck” wahrzunehmen. Das Erfassen der Zweckmässigkeit dieser Art erfolgt nicht auf dem Wege der Begriffe; es liefert uns keine Welterkenntnis und es zeigt uns die Wirklichkeit nicht als einen Mechanismus, sowie auch nicht als etwas nützliches. Im Allgemeinen gehört das Erfassen der Wirklichkeit als einer

„Zweckmässigkeit ohne Ziel” nicht zu dem Wissensgebiet, aber es ist lediglich eine gwisse Klugheit. Diese erwerben wir mit der Zeit, durch das Erfahren der Kunst, durch das Beobachten der natürlichen Schönheit, oder auch letztendlich durch die künstlerische Erfahrung. Wir beziehen uns jedes Mal auf die von uns besessenen ästhetischen Ideen, aber nicht auf konkrete Begriffe, welche ein objektives, unveränderliches Axiom sein könnten. Das Erwerben ästhetischer Erfahrung erinnert keinesfalls an den Prozess des Erwerbens von dem wissenschaftlichen Wissen, also ist es an keine Schemen angelehnt, verfügt über keine starren Regeln, welche es erlauben würden ein fertiges Muster zu bilden, das bei jeder Art an ähnlichen Begebenheiten wirksam wäre. Das ästhetische

„Wissen” ist immer individuell. Die Beurteilung von Schönheit erfolgt jedes Mal erneut, indem wir uns auf unsere Fähigkeit der Bildung von Ideen beziehen. Dies geschieht sogar dann, wenn das Urteil von einem Fachmann auf einem gegebenen künstlerischen Gebiet gefällt wird. Zum Beispiel dann, wenn ein Fachmann der Rembrandt-Malerei jedes Mal das Werk des holländischen Meisters bewertet und zwar in Anlehnung an das zuvor erworbene Wissen, das jedoch über keine fertige Vorschriftsformen verfügt, aber in Form einer Idee gespeichert ist, die es ihm erlaubt eine letztendliche Bewertung des Werkes abzugeben. Es fällt schwer abzustreiten, dass ein Fachmann der Rembrandt-Malerei über ein gewisses konkretes Wissen verfügt. Nichts desto trotz wendet er es anders als ein Wissenschaftler an. Der Unterschied beruht auf einer anderen Anwendung der Urteilskraft. Ein Wissenschaftler bedient sich der determinierenden Urteilskraft, indem er ein Urteil abgibt. Diese verfügt über eine Kombination an Begriffen, welche es erlauben das herausgegebene Urteil zu bestimmen und sogar zu beweisen. Bei der ästhetischen Bewertung bedienen wir uns der reflectirenden Urteilskraft, welche nicht durch die Begriffe determiniert ist. Ein Urteil geben wir anhand einer Idee ab, die wir jedes Mal neu und individuell in jedem Fall bilden. Solch ein Handeln verfügt über Merkmale einer besonderen Fähigkeit, die es uns jedes Mal erneut erlaubt die von uns gesehene und beurteilende Erscheinung etwas anders zu betrachten. Um diese besondere Klugheit darzustellen, bezieht sich die Autorin lediglich auf einige Absätze der Kritik der


Urteilskraft, indem sie diese analysiert und darstellt, auf welche Weise der Verstand des Menschen Ideen und ästhetische Ideale bildet.

Die Autorin interessiert vor allem, wie das Erkenntnisvermögen des Menschen funktioniert, auf welche Weise das ungezwungene Spiel zwischen dem Vorstellungsvermögen und dem Intellekt verläuft, worauf die Alltäglichkeit dieses Spiels beruht, dass es erlaubt Ideen zu bilden und diese dann weiterzuleiten. Obgleich die Weiterleitung auf dem Begriffsweg erfolgt, sind wir in der Lage infolge des Vergleichens der Idee mit der bewerteten Erscheinung Vergnügen zu spüren. Indem die Autorin versucht das Funktionieren des Mechanismus zu erklären, der es dem Intellekt und der Vorstellungskraft erlaubt zusammenzuarbeiten (durch das ungezwungene Spiel und nicht durch die Determination der Begriffe), bezieht sich die Autorin auf die kantianische Unterscheidung zwischen dem Begriff der Vollkommenheit (der durch bestimmte Begriffe determiniert ist) und auf den Begriff der Schönheit. Die Schönheit ist keine Darstellungsweise eines bestimmten Zweckes, sondern lediglich eine mit Vergnügen entstehende Idee, die infolge des Erfassens einer gewissen Form durch die Vorstellungskraft geboren wird, welche durch keine Zweckmässigkeit eingeschränkt ist.

Die Autorin macht auch konsequent auf die Fragen aufmerksam, welche sich aus solch einer Herangehensweise an die Wirklichkeit ergeben: (1) Reinheit und Uneigennützigkeit der Geschmacksurteile und (2) Unterscheidung zwischen der freien und abhängigen Schönheit. Sie ist vor allem jedoch an dem Unterschied zwischen der Idee und dem Ideal interessiert, welcher sich Kant in dem §17 der Kritik der Urteilskraft annimmt. Die Idee ist allgemeiner und enthält einen gewissen dynamischen Moment, der es erlaubt Ideale zu bilden, die eine konkrete, einheitliche und entsprechende Darstellungsweise einer gewissen Idee sind. Die erwähnte Unterscheidung umfasst sowohl die Aufteilung in die freie Schönheit und unabhängige Schönheit, sowie in unterschiedlichen Funktionen der Vorstellungskraft und des Intellektes, die bei der Formulierung von ästhetischen Urteilen Anwendung finden. Die Schönheit des Ideals ist nämlich abhängiger, das heisst man kann sie in einem grösseren Grade anhand des Begriffes einer bestimmten Zweckmässigkeit und der Verstandsidee bestimmen als anhand der Vorstellungskraft. Die Idee steht jedoch der freien Schönheit und der eher freien Wirkung der Vorstellungskraft näher.

Dank diesen detaillierten Unterscheidungen – sehr wichtigen in Bezug auf den Grundsatz der Ästhetik von Kant – ist die Autorin darum bemüht dem Leser klar zu machen, wie äusserst kompliziert und intern differenziert die Fähigkeit ist, welche der Mensch erlangen muss, um überhaupt imstande sein zu können ästhetische Bewertungen zu formulieren. Diese Fähigkeit ist übrigens nicht nur auf dem Gebiet der Ästhetik nützlich, aber auch in der ganzen Sphäre der breit verstandenen Kultur. Die Autorin fasst ihre Überlegungen in dieser Frage zusammen, indem sie sich auf die Beschreibung der Tätigkeit eines Genies bezieht und zwar auf die geheimnisvolle Fähigkeit mancher Menschen, die auf eine beabsichtigte Weise (also anhand eines Kunstwerkes) in der Lage sind unsere Vorstellungskraft und unser Intellekt in ein freies Spiel zu bringen, dank dem wir neue Ideen bilden können. Das Ziel der Autorin beruht jedoch nicht auf der

Darstellungsweise der Denkweise und Handlungsweise der Künstler, sei es auch der hervorragendsten, wie auch nicht auf der Darstellungsweise unserer Bewertungsweise von Künstlern hergestellten Kunstwerken. Das Interessenzentrum der Autorin ist lediglich dem Mechanismus des Entstehens der Idee durch die unterschiedliche und ausgebaute Zusammenwirkung der Vorstellungskraft mit dem Intellekt gewidmet. Das letztendliche Ziel unserer Fähigkeit bei der Ideenbildung ist die Darstellung, auf welche Weise wir die Fähigkeit zur Ideenbildung der Glückseligkeit erlangen. Es ist nicht so schwer sich adäquat ein ideales Glück vorzustellen, es ist geradezu einfach unmöglich. Wir sind jedoch sehr gut in der Lage uns die Hölle und die ewigen Quallen vorzustellen. Wie sind wir somit in der Lage mit dem Erlangen der Idee der Glückseligkeit zurechtzukommen? Kants Antwort ist sehr einfach: anhand der ästhetischen Idee. Der Philosoph analysiert diese spezifische Wirkungsweise unseres Verstandes in dem §49 der Kritik der Urteilskraft, welcher der Frage der Verstandskraft eines Genies gewidmet worden ist. Die ästhetische Idee beweist noch gar nichts, sie lässt sich nicht konkret darstellen, doch wie Kant schreibt „die viel zu denken veranlaßt” (5:314). Die Vorstellung von einer konkreten Glückseligkeit, über welche wir nicht verfügen, wird durch eine unbestimmte, aber ausserordentlich suggestive ästhetische Idee ersetzt. So wie es der Fall bei mittelalterlichen Bildern ist, wo wir anstatt der Darstellungsweise des Edens lediglich eine Türspalte sehen, durch die ein helles Licht durchscheint. Somit beendet die Autorin zurecht ihre Erwägungen mit der Erörterung dessen, auf welche Weise die Idee der Glückseligkeit mit der ästhetischen Normalidee in Verbindung steht. Die Autorin bemerkt zutreffend, dass sich die Idee der Glückseligkeit nicht aus der natürlichen Zweckmässigkeit ergibt, sondern mit dem Ideal der Menschlichkeit und unserer Bestrebung nach der Realisierung eines idealen Wohlwollens, welches das letzendliche Ziel unserer Entwicklung (des Fortschrittes) darstellt, in Verbindung steht. In diesem Kontext steht die Schönheit und unsere Fähigkeit seiner Erkenntnis und Bewertung mit der Entwicklung der Kultur, der Vervollkommnung der interessenlosen Betrachtungsweise der Welt in Verbindung. Dieser Gedanke ist in der Philosophie von Kant sichtbar und wird um so deutlicher von dem Fortsetzer, dem Dichter und Dramatiker Friedrich Schiller ausgedrückt. In den Essays Über das Erhabene oraz Über das Pathetische, und noch ausdrücklicher in der Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Schiller zeigt die praktische Wirkungsweise der ästhetischen Fähigkeit von der anthropologisch-pädagogischen Seite aus. Diese Fähigkeit hat als einzige genügend Kraft dazu den Menschen aus der Tierwelt zu ziehen und ihn in die Ästhetik sowie in die rein menschliche Berufung zu führen.

Das Buch von Claudia Graband provoziert weitere Untersuchungen, das Stellen von Fragen, welche über ihre grossartige und detaillierte Präsentation hinausgehen. Es kommt

z. B. eine Frage auf, ob die technisch-praktischen Regeln, von denen die Kritik der Urteilskraft schreibt, „Corollarien zur theoretischen Philosophie” (5:172) darstellen, sie auf irgendwelche Weise die Erkenntnisformen charakterisieren, die Kant als eine Kunstart und nicht als Wissenschaft (wie z. B. die Chemie) zu beschreiben bereit ist.

Es ist deutlich zu sehen, dass Kant eine gewisse besondere Fähigkeit zu unterstreichen versucht und ihr eine indirekte (oder vermittelnde) Funktion verleihen möchte. Auf diese


Weise eben behandelt die Autorin die Klugheit in ihrer Abhandlung; sie macht auf diesen Aspekt aufmerksam, indem sie sich u. a. auf die Bemerkung von Reinhard Brandt (S. 3) bezieht, welche deutlich den typischen Kontext von Opus postumum suggeriert.

In Opus postumum schreibt Kant direkt von der Gegenüberstellung des technisch- praktischen und des moral-praktischen Verstandes. Er bildet eine Hierarchie bei der Benutzung der Ziele: Geschicklichkeit, Klugheit und Weisheit (21:31), welche mit dem hier dargestellten System der Idee (Welt, Mensch und Gott) in Korrespondez steht. Die Klugheit ist eine besondere, menschliche Weisheit, die in der Welt Anwendung findet. Es gibt die „Weltklugheit”: „Weltweisheit heißt menschliche Weisheit ist davon das Analogon nicht eine Kunst sich selbst und andere zu bessern Menschen zu machen Klugheit in Ansehung aller gemeinnützlicher Zwecke ist Weltweisheit” (21:120). Der Mensch betritt die „indirekte” Sphäre der „Weltklugheit” dann, wenn er zum ersten Mal seinen eigenen Verstand benutzt, wenn er von der Schlange überredet wird („werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist” Gen 3, 5) und wahrhaftig die versprochene Klugheit erwirbt: „seyd klug wie die Schlangen” (8:370).

Es ist deutlich zu sehen, dass die Überlegungen über die Klugheit (vor allem aus der Perspektive der Kritik der Urteilskraft) unser Wissen bereichern könnten und zwar über die von Kant unternommenen Versuche die Kluft zwischen der theoretischen und praktischen Benutzung des Verstandes zuzuschütten. Das hauptsächliche Interesse von der Autorin der behandelten Abhandlung geht jedoch nicht in diese Richtung. Es stellt mit Sicherheit einen interessanten Ausgangspunkt zur Ergänzung unseres Wissens auch über Opus postumum und eine ernste Einbindung des Inhaltes der Kritik der Urteilskraft in das nicht zu Ende gebrachte Werk von Kant dar.