Heuristisch legitimierte Grundsätze der Vernunft und ideell interpretierte Vernunftideen. Zur Funktion der wissenschaftstheoretischen Beispiele des ersten Teils des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft

 

Heuristically Legitimized Principles and Ideationally Interpreted Ideas of Reason. The Function of the Examples of the First Part of the Appendix to the Transcendental Dialectic

 

RUDOLF MEER·

Immanuel Kant Baltic Federal University, Russia

University of Graz, Austria

 

Zusammenfassung

Im ersten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik entwickelt Kant einen Übergang zwischen dem logischen Gebrauch der Vernunft und den transzendentalen Prinzipien der Vernunft (Homogenität, Spezifikation, Kontinuität). Basierend auf methodologischen Überlegungen zur Chemie, zur physiologischen Anthropologie und zur Entwicklungsgeschichte astronomischer Grundannahmen versucht Kant, diese Prinzipien in ihrem transzendentalen Status zu rechtfertigen und ihre Kompatibilität mit anderen Teilen der Kritik der reinen Vernunft nachzuweisen. Ausgehend von diesen wissenschaftstheoretischen Beispielen wird für eine heuristisch-pragmatische Rechtfertigung der transzendentalen Prinzipien der Vernunft und eine ideelle Funktion der durch diese Prinzipien gewonnenen Ideen argumentiert. Dabei lässt sich die enge Verbindung zwischen den transzendentalen Prinzipien des ersten Teils des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik und Kants Konzept der rationalen Naturwissenschaft in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft nachweisen.

Schlüsselbegriffe

Grundsatz der Vernunft, Anhang zur Transzendentalen Dialektik, eigentliche und rationale Naturwissenschaft

Abstract

In the framework of the first part of the Appendix to Transcendental Dialectic, Kant develops a transition between the logical use of reason and the transcendental principles of reason (homogeneity, specification, continuity). With regard to methodological reflections on chemistry, physiological anthropology, and the historical development of underlying assumptions in astronomy, Kant attempts to justify these principles and to demonstrate their compatibility with other parts of the Critique of Pure Reason. Based on these scientific examples, the paper argues for a heuristic-pragmatic justification of the transcendental principles of reason and an ideational function of the ideas which are gained through these principles. In doing so, the close link between the transcendental principles of the first part of the Appendix to the Transcendental Dialectic and Kant’s concept of rational natural science in the Metaphysical Foundations of Natural Science can be demonstrated.

Keywords

principle of reason; Transcendental Dialectic; proper and rational natural science

 

Es gibt nur wenige Textpassagen der Kritik der reinen Vernunft, in denen sich Kant so direkt auf konkrete Beispiele der Naturforschung seiner Zeit bezieht wie im ersten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik[1] und den darin thematisierten transzendentalen Grundsätzen der Vernunft[2]. Die zentrale Schwierigkeit dieses Lehrstücks findet sich in der Demonstration des Übergangs vom bloß logischen Vernunftgebrauch zum transzendentalen und den daran anschließenden Fragen der Legitimität dieser Grundsätze sowie der Kompatibilität mit anderen Theorieelementen der ersten Kritik. Verteilt über die gesamte Transzendentale Dialektik finden sich drei verschiedene Argumentationsstrategien, um diesen Übergang zu rechtfertigen, die sich erstens als metaphysisch-ontologische[3], zweitens als epistemologisch-methodische[4] und drittens als heuristisch-pragmatische[5] differenzieren lassen.[6] Über die Gewichtung und das Potential der jeweiligen Argumente herrscht jedoch in der Forschung Uneinigkeit und auch Kant selbst räumt an mehreren Stellen der Transzendentalen Dialektik (A 308/B 365; A 650/B679; A 664/B 692), aber insbesondere in § 60 der Prolegomena mit direktem Bezug auf den ersten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik (Prol AA 4: 364), ein, dass die Frage, wie es zu verstehen sei, dass „auch Erfahrung mittelbar unter der Gesetzgebung der Vernunft stehe“ (Prol AA 4: 364), eine noch zu lösende Aufgabe (Prol AA 4: 362) bilde.

Basierend auf der rudimentären Entwicklung dieses Lehrstücks kommt den wissenschaftstheoretischen Beispielen des ersten Teils des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik eine besonders zentrale Bedeutung zu.[7] Durch sie lassen sich die transzendentalen Grundsätze der Vernunft in einer viel schwächeren Form als im Rahmen der metaphysisch-ontologischen und epistemologisch-methodischen Argumentationsstrategien, aber doch in ausreichendem Maße als heuristisch-pragmatisch legitimieren. Um dies nachzuweisen, werden Kants Verweise auf die Chemie, die physiologische Anthropologie und die Entwicklungsgeschichte astronomischer Grundannahmen als Argumentationsstrategien rekonstruiert, anhand deren er den Übergang von den bloß logischen zu den transzendentalen Grundsätzen der Vernunft – wenn auch nicht rein argumentativ, so aber doch pragmatisch und praktisch – plausibel zu machen versucht.

Über den Anhang zur Transzendentalen Dialektik hinaus hat der transzendentale Grundsatz der Vernunft sowie die durch ihn erschlossenen Ideen aber auch eine Relevanz für die in der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft entwickelte Klassifizierung der Naturlehre. Dabei ist der Zusammenhang zwischen diesen beiden Textpassagen und die Gewichtung bzw. die spezifische Funktion des Grundsatzes der Vernunft umstritten. Schematisch lassen sich drei in der Forschung diskutierte Interpretationen, d. h. eine kategorische[8], eine systematische[9] und eine ideelle[10], unterscheiden. Basierend auf der konkreten wissenschaftshistorischen Analyse der Beispiele des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik kann gezeigt werden, dass sich rationale Naturwissenschaft, das heißt „ein nach Principien geordnetes Ganze[s]“ (MAdN AA 4: 467), durch den transzendentalen Grundsatz der Vernunft und das durch ihn geleistete „Systematische der Erkenntnis, d. i. der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip“ (A 645/B 673), bestimmt. Diese Klassifizierung ist daher nicht auf die Tafel der Kategorien bzw. die Grundsätze des Verstandes reduzierbar, sondern weist eine eigene Dignität auf. Zudem wird über den bloßen Zusammenhang von Begriffen in einer Hierarchie von wissenschaftlichen Urteilen eine Idee als Unbedingtes erschlossen, die in Form eines Als-Ob den systematischen Rahmen einzelner Disziplinen schafft. Folglich bildet die Klassifikation einer rationalen Naturwissenschaft im Sinne der ideellen Interpretation eine legitimierte Gesetzmäßigkeit, die unabhängig von den Grundsätzen des Verstandes ist und über die bloße Hierarchie von Begriffen hinausgeht.

Ziel der Untersuchung ist eine Analyse der Struktur des transzendentalen Grundsatzes der Vernunft im Rahmen der Transzendentalen Dialektik und seiner Funktion in Kants Klassifikation der Naturlehre der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Dabei wird für eine heuristisch-pragmatische Legitimation der transzendentalen Grundsätze der Vernunft sowie für eine ideelle Funktion der durch sie erschlossenen Vernunftideen argumentiert. Anhand konkreter historischer Analysen der Beispiele des ersten Teils des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik kann der Zusammenhang zwischen diesen beiden Lehrstücken aufgewiesen und vereinzelte Theorieansätze der Forschung diskutiert und zusammengeführt werden.

 

1 Der transzendentale Grundsatz der Vernunft als Bedingung rationaler Naturwissenschaft

1.1 Naturforschung und Vernunfteinheit

Kants Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft im Anhang zur Transzendentalen Dialektik ist von einer doppelten Bezugnahme geprägt: Erstens rekurriert Kant darin auf Grundsätze der Philosophen und entlehnt damit bekannte, wenn auch in ihrer Reichweite nicht immer erkannte Prinzipien der Forschung. „Wir finden diese transscendentale Voraussetzung [der „systematischen Einheit der Natur“] auch auf eine bewundernswürdige Weise in den Grundsätzen der Philosophen versteckt, wiewohl sie solche darin [in der Natur] nicht immer erkannt, oder sich selbst [zu]gestanden haben.“ (A 651/B 679) Demnach bilde diese Voraussetzung

eine Schulregel oder logisches Princip, ohne welches kein Gebrauch der Vernunft stattfände, weil wir nur so fern vom Allgemeinen aufs Besondere schließen können, als allgemeine Eigenschaften der Dinge zum Grunde gelegt werden, unter denen die besonderen stehen. Daß aber auch in der Natur eine solche Einhelligkeit angetroffen werde, setzen die Philosophen in der bekannten Schulregel voraus: daß man die Anfänge (Principien) nicht ohne Noth vervielfältigen müsse (entia praeter necessitatem non esse multiplicanda). Dadurch wird gesagt, daß die Natur der Dinge selbst zur Vernunfteinheit Stoff darbiete (A 652/B 680).

Trotz des spezifischen Status der Vernunftbegriffe[11] im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft entwickelt Kant diese im Rückgriff und in Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition des 18. Jahrhunderts. Dabei findet er vor allem in den naturphilosophischen Konzepten Anleihen dafür, diese Begriffe nicht bloß als logische bzw. ökonomische Prinzipien zu konzipieren, sondern als solche, die auch in der „Natur der Dinge“ (A 652/B 680) selbst verankert sind.

Zweitens ist die Naturphilosophie aber nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Untersuchungsgegenstand von Kants kritischen Überlegungen. Eine transzendentallogische Fassung der Vernunftbegriffe und eine Spezifizierung als regulative Prinzipien ermöglichen eine Klärung konkreter naturwissenschaftlicher Problemstellungen:

Ein solches Princip [der zweckmäßigen Einheit der Dinge] eröffnet nämlich unserer auf das Feld der Erfahrungen angewandten Vernunft ganz neue Aussichten, nach teleologischen Gesetzen die Dinge der Welt zu verknüpfen und dadurch zu der größten systematischen Einheit derselben zu gelangen. (A 686f./B 714f.)

Diese „ganz neue[n] Aussichten“ (A 687/B 715) auf das „Feld der Erfahrungen“ (A 687/B 715) erprobt Kant im Rahmen des ersten Teils des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik ausgehend von der Chemie (A 653f./B 680f.; A 646/B 674), der physiologischen Anthropologie (A 668/B 696) und der Entwicklungsgeschichte astronomischer Grundannahmen (A 662f./B 690f.).[12] All diesen Überlegungen liegt eine spezifische Gesetzmäßigkeit zugrunde, die durch die transzendentalen Grundsätze der Vernunft sowie die dadurch erschlossenen Vernunftideen legitimiert ist.[13] Während in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft ausgehend von den Grundsätzen des Verstandes der Übergang zu den metaphysischen Anfangsgründen der rationalen Physik im Vordergrund steht, rücken im Anhang zur Transzendentalen Dialektik Disziplinen in den Fokus, denen kein solcher Status zukommt, die aber doch einer spezifischen Gesetzmäßigkeit folgen.

1.2 Der Status des Grundsatzes der Vernunft

Bereits in der Einleitung zur Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft formuliert Kant anhand zweier Ob-Fragen eine die gesamte Dialektik betreffende Problemstellung ausgehend vom Grundsatz der Vernunft: „Mit einem Wort, die Frage ist: ob die Vernunft an sich selbst, d. i. die reine Vernunft a priori synthetische Grundsätze und Regeln enthalte, und worin diese Prinzipien bestehen mögen?“ (A 306/B 363) Kant beantwortet diese erste Ob-Frage mit einem Ja, unterscheidet aber die aus diesem „obersten Princip der reinen Vernunft entspringende[n] Grundsätze“ (A 308/B 365), die „in Ansehung aller Erscheinungen transcendent“ (A 308/B 365) sind, von den „Grundsätzen des Verstandes (deren Gebrauch völlig immanent ist, indem sie nur die Möglichkeit der Erfahrung zu ihrem Thema haben)“ (A 308/B 365; A 664/B 692).[14]

Zweitens stellt Kant die Frage, ob „jener Grundsatz [der Vernunft], daß sich die Reihe der Bedingungen (in der Synthesis der Erscheinungen, oder auch des Denkens der Dinge überhaupt) bis zum Unbedingten erstrecke, seine objective Richtigkeit habe oder nicht“ (A 308/B 365). Dies impliziert die Frage, ob es sich beim Grundsatz der Vernunft um eine „logische Vorschrift“ (A 309/B 365)[15] oder einen „objectivgültigen Vernunftsatz“ (A 309/B 365; A 648/B 676)[16] handelt. Kant beantwortet auch diese zweite Ob-Frage mit einem Ja. Dem „ökonomischen Grundsatz der Vernunft“ (A 649/B 677), der ein Grundsatz in der „Ersparung der Prinzipien“ (A 649/B 677) ist, entspreche folglich ein „inneres Gesetz der Natur“ (A 649/B 677).

Ausgehend von der hier postulierten positiven Antwort auf beide Fragen thematisiert Kant im Anhang zur Transzendentalen Dialektik (A 663f./B 691f.; A 670/B 698, siehe auch A 307f./B 364) explizit den Übergang bzw. das Spannungsverhältnis vom logischen zum transzendentalen Vernunftgebrauch. Durch die Beispiele kann er dabei – in pragmatischer Weise und praktisch fundiert, d. h. basierend auf dem tatsächlichen wissenschaftstheoretischen Umgang mit empirischen Stoffen und ihrer Klassifizierung – zweierlei Vorwürfe zurückzuweisen: erstens, dass der Vernunftgebrauch in seinem legitimen regulativen Verständnis auf die logische und subjektive Ordnung von Begriffen reduziert sei und daher ausschließlich ein Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrat unseres Verstandes bilde.[17] Der zweite Vorwurf besteht darin, dass der regulative Vernunftgebrauch metaphysische Begriffskonstruktionen ermögliche und damit die in kritischer Weise gezogenen Grenzlinien der ersten Kritik aufbreche.[18] Die konkreten naturwissenschaftliche Bezüge zeigen entgegen beider Vorwürfe, wie ausgehend vom Grundsatz der Vernunft die Vernunftprinzipien und ‑ideen „objektive, aber unbestimmte Gültigkeit“ (A 637/B 691) erlangen können bzw. wie „das Prinzip einer solchen systematischen Einheit auf unbestimmte Art (principium vagum) […] auch objektiv“ (A 680/B 708) sein kann. Sie legitimieren damit eine Mittelstellung zwischen diesen beiden Einwänden, nach welcher der transzendentale Grundsatz der Vernunft nicht bloß logisch, aber auch nicht transzendent aufgefasst wird.

1.3 Rationale Naturwissenschaft

Besondere Relevanz bekommt der Grundsatz der Vernunft in seinem transzendentalen Gebrauch und die durch ihn erschlossenen Ideen mit Blick auf Kants Klassifikation der Naturlehre in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft[19]. Naturwissenschaft bildet für Kant einen Spezialfall von Wissenschaft, dessen Gegenstand eine Natur besitzt und damit abgegrenzt ist von anderen Disziplinen wie der Logik, der Mathematik oder auch der Transzendentalphilosophie. Naturwissenschaft wiederum zerfalle gemäß „der Hauptverschiedenheit unserer Sinne“ (MAdN AA 4: 467), d. i. des äußeren und des inneren, in eine „Körperlehre oder Seelenlehre“ (MAdN AA 4: 468).[20] Natur wiederum bestimmt Kant anhand von zwei sich ergänzenden Aspekten: Erstens sei die Natur formal betrachtet der „Zusammenhang der Bestimmungen“ (A 419/B 446) eines Dings bzw. als das Dasein der Dinge nach allgemeinen Gesetzen bestimmt (Prol AA 4: 294; MAdN AA 4: 467). Zweitens sei Natur materiell betrachtet der Inbegriff aller Vorstellungen bzw. empirischen Gegenstände (A 419/B 446; Prol AA 4: 296; MAdN AA 4: 467). Eine Wissenschaft bilde ein „nach Principien geordnetes Ganzes der Erkenntniß“ (MAdN AA 4: 467; A 647/B 675; A 842f./B 870f.) und sei in diesem Sinne vom bloßen Aggregat zu unterscheiden. Folgen diese Prinzipien Grundsätzen der empirischen Verknüpfung, d. h. beziehen sie sich nur auf aposteriorische „Facta der Naturdinge“ (MAdN AA 4: 468; DP AA 29: 99), ergebe dies eine „historische Naturlehre“ (MAdN AA 4: 468). Diese bestehe sowohl aus Naturbeschreibungen als auch aus Naturgeschichte, in der „systematisch geordnete Facta der Naturdinge“ (MAdN AA 4: 468) wiedergegeben werden. Folgen diese Prinzipien Grundsätzen der rationalen Verknüpfung, dann ergebe dies eine „rationale Naturwissenschaft“ (MAdN AA 4: 468). Eine solche rationale Naturwissenschaft könne wiederum „eigentlich, oder uneigentlich so genannte Naturwissenschaft sein“ (MAdN AA 4: 468). Unter einer eigentlichen, rationalen Naturwissenschaft sei eine Lehre zu verstehen, in welcher der Untersuchungsgegenstand „gänzlich nach Principien a priori“ (MAdN AA 4: 468) behandelt wird und deren „Gewißheit apodiktisch ist“ (MAdN AA 4: 468). In einer uneigentlichen, rationalen Naturwissenschaft hingegen werde der Untersuchungsgegenstand „nach Erfahrungsgesetzen behandelt“ (MAdN AA 4: 468) und die Erkenntnis enthalte daher „blos empirische Gewißheit […], ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen“ (MAdN AA 4: 468; siehe auch DP AA 29: 99).[21] Die kantische Gliederung der Naturlehre lässt sich wie folgt wiedergeben:

Abbildung [erstellt vom Autor]

 

Systematische Erkenntnis und rationale Verknüpfung sind dementsprechend sowohl in einer uneigentlichen als auch in einer eigentlichen Naturwissenschaft Voraussetzung und machen diese erst zu einer rationalen Naturwissenschaft. Der Unterschied liegt darin, dass in erster der Zusammenhang von Gründen und Folgen bloß empirisch, in zweiter nach Prinzipien a priori legitimiert ist. Die Grundsätze des Verstandes bilden demnach jenen reinen Teil der Naturwissenschaft (MAdN AA 4: 473–477), der diese zu einer eigentlichen Naturwissenschaft erhebt und damit auch die Struktur der gesamten Abhandlung der Schrift von 1786 vorgibt. Dabei wird in Form eines apodiktischen Vernunftgebrauchs (A 645/B 673) das Mannigfaltige in Raum und Zeit unter allgemeine Regeln subsumiert und der Natur – in formaler Hinsicht, d. i. aufgrund der durch die Grundsätze des Verstandes geleisteten Verknüpfung – ihre Gesetze vorgeschrieben (Prol AA 4: 320; B XVIf.).

Dem apodiktischen Vernunftgebrauch stellt Kant im Anhang zur Transzendentalen Dialektik den hypothetischen gegenüber, durch den „das Systematische der Erkenntnis, d. i. der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip“ (A 645/B 673) bzw. „ein nach Principien geordnetes Ganze[s] der Erkenntnis“ (MAdN AA 4: 467) legitimiert werden soll. In diesem Sinne heißt es in der Transzendentalen Methodenlehre: „Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.“ (A 832/B 860) Dabei sei das Besondere gewiss – allerdings das im apodiktischen Vernunftgebrauch vorausgesetzte Allgemeine nur „problematisch angenommen“ (A 646/B 674). Für Kant bildet der hypothetische Vernunftgebrauch aber keine Kontradiktion zum apodiktischen, sondern integriert vielmehr ein mehrstufiges Modell: In diesem werde in einem ersten Schritt ausgehend von „mehreren besonderen Fälle[n], die insgesamt gewiss sind“ (A 646/B 674), und anhand des Prinzips der Homogenität auf eine allgemeine Regel geschlossen. Das „Besondere ist gewiß, aber die Allgemeinheit der Regel zu dieser Folge ein Problem“ (A 646/B 674). Beabsichtigt werde, über die Erfahrung hinaus „Einheit in die besondere Erkenntnis zu bringen“ (A 647/B 675). Daran anknüpfend werde in einem zweiten Schritt, ausgehend vom Prinzip der Spezifikation, von dieser erschlossenen allgemeinen Regel wiederum auf die Fälle geschlossen. Dadurch können diese Einzelfälle von ihrer allgemeinen Regel her geprüft und Zusammenhänge sichtbar gemacht werden. Das Prinzip der Kontinuität setze dabei einen systematischen Zusammenhang zwischen der allgemeinen Regel und ihren Fällen, wodurch, ausgehend von der allgemeinen Regel, drittens auch auf jene Fälle, „die auch an sich nicht gegeben sind“ (A 647/B 675), geschlossen werden könne. Kant entwickelt anhand der Grundsätze der Vernunft damit eine reziproke Beziehung zwischen einer allgemeinen Regel und besonderen Fällen. Das Unbedingte wird dabei als Vernunftidee problematisch aus der Mannigfaltigkeit der Verstandeserkenntnis erschlossen, um für diese wiederum einen „Probierstein der Wahrheit“ (A 647/B 675) zu bilden und damit einen Beweisgrund ihrer Gesetzmäßigkeit.[22]

Die von Kant als uneigentliche Naturwissenschaften bezeichneten Disziplinen basieren demnach auf dem Grundsatz der Vernunft und die durch diesen Grundsatz erzeugten Vernunftideen. Die eigentlichen Naturwissenschaften weisen über diese systematische Ordnung hinaus einen reinen Teil auf, der durch die Grundsätze des Verstandes gewährleistet ist und durch die apodiktische Gewissheit erreicht wird.

 

 

 

2 Chemie – Prinzipien und Elemente

2.1 Status

Auf der Basis der Unterscheidung zwischen historischer Naturlehre und rationaler Naturwissenschaft sowie der weiteren Differenzierung in eine eigentliche und uneigentliche Naturwissenschaft kommt Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft auf die Chemie zu sprechen. Darin heißt es: Wenn die Gründe oder Prinzipien,

wie z. B. in der Chemie, doch zuletzt blos empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebene Facta durch die Vernunft erklärt werden, blos Erfahrungsgesetze sind, so führen sie kein Bewußtsein ihrer Nothwendigkeit bei sich (sind nicht apodiktisch=gewiß), und alsdann verdient das Ganze in strengem Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft, und Chemie sollte daher eher systematische Kunst als Wissenschaft heißen. (MAdN AA 4: 468)

Kant hat bei dieser Einordnung der Chemie die Affinitätstheorien des 18. Jahrhunderts vor Augen.[23] Wie für Newton bildet die Chemie für Kant eine Teil- oder Subdisziplin der Mechanik. Bei dieser sei „nach der Idee des Mechanismus die chemische Wirkung der Materien unter einander zu erklären“ (A 646/B 674; siehe auch MAdN AA 4: 471). Die Chemie handelt folglich von den Fliehkräften und der Gravitation zwischen kleinen Körpern.[24]

Basierend auf Newtons Überlegungen[25] veröffentlicht E. F. Geoffroy 1718 seine Table des differents rapports observés en Chimie entre differentes substances, die alle zu Beginn des 18. Jahrhunderts synthetisierbaren Substanzen umfasst.[26] Geoffroys Tabelle bildet damit den Ausgangspunkt für ein Jahrhundert der chemischen Forschung, in der diese Tabellen auf der Basis empirischer Versuche weiter spezifiziert werden. Einen Höhepunkt findet diese empirisch geleitete Forschung in T. Bergmans Arbeit Disquisitio de Attractionibus Electivis von 1775[27], die Kant in einer Übersetzung bekannt war. Versucht die newtonsche Orthodoxie in Frankreich – die sich in der Nachfolge von Geoffrey insbesondere um G.-L. L. Buffon etabliert – die Affinitätsverhältnisse zwischen den Körpern experimentell zu untersuchen und die Chemie als rein empirische Forschung zu etablieren, geht E. Stahl davon aus, dass der chemische Körper ein intrinsisches Vermögen (Stahl 1720a, p. 38) bildet, das sich in der chemischen Reaktion offenbart, weshalb nicht sämtliche Affinitäten empirisch nachweisbar sind. Die Phologistonchemie Stahls bewahrt damit die Vorstellung von Urelementen wie Wasser, Erde, Luft und Feuer, die als Prinzipien bzw. Elemente einfache, ungemischte Körper bilden und als Träger von allgemeinen Eigenschaften (Stahl 1718, p. 73) fungieren.

Diese Konzeption entspricht wiederum genau Kants Auffassung einer uneigentlichen Wissenschaft. Dabei ist der systematische Rahmen in Form eines „nach Prinzipien geordnete[n] Ganze[n] der Erkenntnis“ (MAdN AA 4: 467) gegeben sowie ein rationaler Grund der Verknüpfung. Die Chemie ist damit gegenüber bloß historischen Naturlehren als rationale Naturwissenschaft zu kennzeichnen, die jeweiligen Verhältnisse der einzelnen Teile, d. i. deren Affinitäten zueinander, sind allerdings nur empirisch erforschbar, weshalb ihre Gesetze kein Bewusstsein der Notwendigkeit bei sich führen. Wenn aber für die „chemischen Wirkungen der Materien auf einander kein Begriff ausgefunden wird, der sich construiren läßt […], so kann Chemie nichts mehr als systematische Kunst oder Experimentallehre, niemals aber eigentliche Wissenschaft werden“ (MAdN AA 4: 470f.).[28] Den Status einer eigentlichen Wissenschaft könne die Chemie demnach nur bekommen, wenn sich ein „Gesetz der Annäherung oder Entfernung der Theile angeben läßt, nach welchem etwa in Proportion ihrer Dichtigkeiten u.d.g. ihre Bewegungen sammt ihren Folgen sich im Raume a priori anschaulich machen und darstellen lassen“ (MAdN AA 4: 471).[29]

 

2.2 Wissenschaftshistorische Bezüge des Anhangs

Obwohl Stahl in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft nicht namentlich genannt wird, bildet er neben der Kritik der reinen Vernunft auch in diesem Text den zentralen Bezugspunkt für Kants Überlegungen zur Chemie. Dies wird besonders deutlich, wenn die Ausführungen der Schrift von 1786 in Zusammenhang mit jenen der Danziger-Physik-Nachschrift von 1785 und dem darin zugrunde gelegten Kompendium Anleitung zur gemeinnützlichen Kenntniß der Natur von W. J. G. Karsten gestellt werden. Darin findet sich eine Vielzahl von Beispielen, welche die Überlegungen zum Status der Chemie in den Metaphysischen Anfangsgründen veranschaulichen und mit dem Chemiebeispiel aus dem Anhang zur Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft kompatibel sind.

Kant rekonstruiert im Anhang zur Transzendentalen Dialektik die Prinzipienchemie Stahls, wenn er wie folgt formuliert: Die Begriffe der reinen Erde, des reinen Wassers, der reinen Luft etc. habe man nötig,

um den Antheil, den jede dieser Naturursachen an der Erscheinung hat, gehörig zu bestimmen; und so bringt man alle Materien auf die Erden (gleichsam die bloße Last), Salze und brennliche Wesen (als die Kraft), endlich auf Wasser und Luft als Vehikeln (gleichsam Maschinen, vermittelst deren die vorigen wirken), um nach der Idee eines Mechanismus die chemischen Wirkungen der Materien unter einander zu erklären. (A 646/B 674)

 

Die Elemente werden demnach gebraucht, um den Anteil, den jede dieser Naturursachen an den Erscheinungen hat, zu bemessen. Ziel sei es, alle Materien auf die Erde, die Salze und brennliche Wesen (Phlogiston[30]) sowie Wasser und Luft zu reduzieren[31], um dadurch die chemische Wirkung der Materie untereinander nach dem Vorbild des Mechanismus zu erklären.[32] Kant wiederholt damit auch Stahls Differenzierung von Elementen und Instrumenten (Vehikeln): Elemente bilden in den Dingen bzw. empirischen Gegenständen eigenschaftstragende Prinzipien. Instrumente hingegen seien bloße Hilfsmittel in der Reaktion (Verbindung), gehen aber nicht selbst in die Verbindung mit ein. Unüblich in der Rekonstruktion ist lediglich, dass Kant Wasser nicht als Element, sondern als Instrument anführt. Typisch für Stahl ist allerdings, dass die Luft als Instrument (Stahl 1720a, p. 48) genannt wird.

An einer kurz darauffolgenden Stelle des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik entwickelt Kant die Prinzipienchemie und ihre chemiehistorische Entwicklung weiter. Dort heißt es:

Es war schon viel, daß die Scheidekünstler alle Salze auf zwei Hauptgattungen, saure und laugenhafte, zurückführen konnten, sie versuchen sogar auch diesen Unterschied bloß als eine Varietät oder verschiedene Äußerung eines und desselben Grundstoffs anzusehen. Die mancherlei Arten von Erden (den Stoff der Steine und sogar der Metalle) hat man nach und nach auf drei, endlich auf zwei zu bringen gesucht; allein damit noch nicht zufrieden, können sie sich des Gedankens nicht entschlagen, hinter diesen Varietäten dennoch eine einzige Gattung, ja wohl gar zu diesen und den Salzen ein gemeinschaftliches Princip zu vermuthen (A 653f./B 680f.).

 

Mit der klassischen Differenzierung des Salzes in zwei Hauptgattungen, d. h. Säuren und Laugen, rekurriert Kant, wie aus der Danziger Physik-Nachschrift (DP AA 29: 163) deutlich wird, direkt auf Stahl. Aber auch hinsichtlich der Unterscheidung der Erde in die Stoffe Steine und Metalle bildet Stahl den naturwissenschaftlichen Bezugspunkt. Diesem folgend ist Metall eine Komposition aus Erde und Phlogiston, dabei wird letzteres bei der Verkalkung abgegeben, wie Kant auch in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft erwähnt (B XIIf.). Aber auch in seiner abfälligen Bemerkung, dass in der Chemie darüber hinaus noch eine Einheit von Erden (Stein und Metall) und Salzen gesucht wurde, ist das Verhältnis zu Stahl klar ersichtlich. Nach Stahl ist nämlich ein Salz eine Verbindung von Erde und Wasser. Die Einteilung der Salze und Erden, so Kant, ist durchaus legitim und wichtig, um systematische Einheit zu erzeugen. Diese Klassifizierungen dürfen aber nicht zum Selbstzweck, sondern müssen in Bezug auf ihre Varietät gebraucht werden, wie Kant mit Bezug auf die Praxis chemischer Forschung, sich ständig mit noch grundlegenderen Elementen und Prinzipien zu überflügeln, ausspricht.

2.3 Transformationen

In der Phlogistonchemie des 18. Jahrhunderts herrscht konzeptuelle Unklarheit über den ontologischen Status der grundlegenden Prinzipien, was sich an mehreren Stellen insbesondere bei Stahl zeigt: „Ein principium oder Anfang wird so wohl a priori dasselbe genannt, das es dasjenige sey, woraus eigentlich und am ersten dessen Wesen bestehet, als auch a posteriori, worin zuletzt der vermischte Cörper wiederum resolviert wird. Beide Beschreibungen sind wahr.“ (Stahl 1720a, p. 4) Stahl fasst die Prinzipien demnach als apriorische Elemente, als Wesen oder als Substanzen auf.[33] Gleichzeitig fordert er aber, dass diese a posteriori aufweisbar sein müssen und damit Gegenstände der chemischen Analyse bilden.[34] Als solche wiederum sind sie gewöhnliche Stoffe und empirisch identifizierbar.[35]

Kants regulativer Vernunftgebrach überwindet genau diese Unstimmigkeit im ontologischen Status des Elementbegriffs und die damit verbundenen Schwierigkeiten.[36] Die transzendentalen Grundsätze der Vernunft leiten den Forscher bzw. die Forscherin dabei an, von den gegebenen Fällen allgemeine Elemente zu erschließen. Diese, verstanden als Vernunftideen, „werden nicht aus der Natur geschöpft, vielmehr befragen wir die Natur nach diesen Ideen und halten unsere Erkenntniß für mangelhaft, so lange sie denselben nicht adäquat ist.“ (A 645f./B 673f.) Kant fasst die Elemente folglich nicht als empirische Gegenstände auf: „Man gesteht: daß sich schwerlich reine Erde, reines Wasser, reine Luft etc. finde.“ (A 646/B 674) Sie haben vielmehr, „was die völlige Reinigkeit betrifft, nur in der Vernunft ihren Ursprung“ (A 646/B 674; DP AA 29: 162f.). Gleichzeitig werden sie aber auch nicht als bloß abstrakte und okkulte Entitäten klassifiziert, womit sich Kant von Stahls Fundierung der Elemente und Prinzipien in Form einer Korpuskulartheorie (MAdN AA 4: 523–535) und dem Kampf gegen eine Kontinuitätstheorie (MAdN AA 4: 503) abzusetzen weiß. Kant argumentiert in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft demnach gegen die Annahme von absolut leeren Räumen und absolut harten Teilchen sowie die Vorstellung, die Affinitäten von den Partikeln der Natur abzulesen. Die Elemente, die den systematischen Rahmen der Chemie bilden, haben vielmehr Gültigkeit, solange sie die Forschung produktiv anregen. D. h., solange im Rahmen der Prinzipienchemie anhand des Umweges über diese eingebildeten Gegenstände wie reines Wasser, reine Luft, reine Erde etc. produktive Einsichten für die empirische Zusammensetzung der Stoffe generiert wird, wird mit ihnen auch etwas über die Natur der Dinge ausgesagt und sie haben demnach eine legitimierte transzendentale Gültigkeit und sind nicht bloß Gesetze der Haushaltung. Die Elemente leisten in dieser regulativen Weise einen positiven Beitrag in der Erforschung der Natur, wodurch ihnen auch einige objektive Gültigkeit zukommt.

 

3 Physiologische Anthropologie – die Stufenleiter der Geschöpfe

3.1 Status

 

Kant versteht unter Anthropologie „[e]ine Lehre von der Kenntniß des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie)“ (AipH AA 7: 119). Diese könne es „entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht“ (AipH AA 7: 119) geben: „Die physiologische Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“ (AipH AA 7: 119) In der physiologischen Anthropologie sei demnach der „Charakter der Menschen“ (AipH AA 7: 321) bzw. der „Mensch im System der lebenden Natur“ (AipH AA 7: 321) thematisch.[37] Ziel ist die Erklärung der psychischen Phänomene auf der Basis einer Theorie physiologischer Bedingung.

Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht bildet für Kant die zentrale Ausrichtung seiner Anthropologie. Mit dieser setzt er sich spätestens seit den 1770er Jahren sowohl gegen die empirische Psychologie der Wolff-Schule[38] als auch gegen die physiologische Anthropologie E. Platners ab. Die kritische Distanznahme führt zu einer paradoxen Situation: Kant akzeptiert und nutzt in seiner Anthropologie das psychologische Vermögensideom, stellt aber gleichzeitig in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft fest, dass die empirische Psychologie niemals Naturwissenschaft werden kann (MAdN AA 4: 471).[39] Gleichzeitig weist er das theoretische Vokabular der physiologischen Anthropologie dezidiert zurück, behauptet aber nie, dass die physiologische Anthropologie nicht Wissenschaft im Sinne der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft werden kann. Kants Ablehnung der physiologischen Anthropologie basiert folglich nicht auf epistemologischen und methodologischen Gründen, sondern ist für ihn in diesem Zusammenhang schlichtweg irrelevant.[40] Wird diese Marginalisierung aufgrund der zentralen Stellung der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zurückgestellt, lässt sich mit der Klassifizierung der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft Folgendes feststellen: Die physiologische Anthropologie bildet – im Gegensatz zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht – einen Gegenstand der Körperlehre. Mit der Stufenleiter der Geschöpfe ist zudem ein systematischer Rahmen und die Möglichkeit rationaler Verknüpfungen gegeben, mit dem die physiologische Anthropologie erstens nicht bloß historische Naturlehre, sondern rationale Naturwissenschaft ist. Zweitens fehlt aber auf der Basis dieses nach einem Prinzip geordneten Ganzen – wie in den Affinitätstheorien der Chemie – die Konstruierbarkeit der Verhältnisse der einzelnen Teile untereinander, weshalb auch der physiologischen Anthropologie der Status einer uneigentlichen Wissenschaft zugeschrieben werden kann.

3.2 Wissenschaftshistorische Bezüge des Anhangs

Bei manchem „Vernünftler“ (A 666/B 694), so Kant im Anhang zur Transzendentalen Dialektik, mag „mehr das Interesse der Mannigfaltigkeit“ (A 666/B 694) vorherrschen, bei manchen anderen „das Interesse der Einheit (nach dem Prinzip der Aggregation)“ (A 666/B 694). Der Unterschied aber gründe lediglich auf einer „größeren oder kleineren Anhänglichkeit an einen von beiden Grundsätzen“ (A 667/B 695) und nicht „auf objektiven Gründen“ (A 667/B 695). Der Unterschied liege folglich darin, was dieser oder jener sich stärker „zu Herzen nimmt, oder auch affektiert“ (A 667/B 695) – bei dem einen stehe das Prinzip der Spezifikation und bei dem anderen das Prinzip der Homogenität im Vordergrund: Dies äußere sich vor allem an der sehr

verschiedenen Denkungsart der Naturforscher, deren einige (die vorzüglich spekulativ sind), der Ungleichartigkeit gleichsam feind, immer auf die Einheit der Gattung hinaussehen, die anderen (vorzüglich empirische Köpfe) die Natur unaufhörlich in so viel Mannigfaltigkeit zu spalten suchen, daß man beinahe die Hoffnung aufgeben müße, ihre Erscheinungen nach allgemeinen Prinzipien zu beurteilen. (A 655/B 683)

 

Um die Gegenüberstellung dieser Denkungsarten zu verdeutlichen, führt Kant ein Beispiel aus der physiologischen Anthropologie an: Oft würden „einsehende Männer mit einander wegen der Charakteristik der Menschen, der Thiere oder Pflanzen, ja selbst der Körper des Mineralreichs im Streite“ (A 667/B 695) stehen. Jene empirischen Köpfe, die sich lediglich auf das Prinzip der Spezifikation stützen, behaupten dabei, dass es besondere, auf die Abstammung zurückführbare Volkscharaktere gebe sowie Unterschiede in den Familien und Rassen. Jene spekulativen Köpfe, die sich lediglich auf das Prinzip der Homogenität stützen, behaupten hingegen, die Natur sei in diesen Dingen ganz gleich und die Unterschiede würden nur auf Zufällen beruhen.[41]

Wird aber, so Kant, entgegen beiden Positionen die besondere „Beschaffenheit des Gegen­standes“ (A 667/B 695) dieses Disputs in Betracht gezogen, so wird leicht begreiflich, dass er für beide „viel zu tief verborgen liege, als daß [sie] aus Einsicht in die Natur des Objektes sprechen“ (A 667/B 695) könnten. Das heißt, nicht die jeweilige Ausrichtung der spekulativen oder empirischen Köpfe ist das Problem, vielmehr ist es ein falsches Konzept empirischer Gegenstände und der Anspruch, der damit verbunden ist. Dieser falsche Gebrauch aber werde nicht nur „Hindernisse veranlassen“ (A 667/B 695), sondern „die Wahrheit lange aufhalten, bis ein Mittel gefunden wird, das streitige Interesse zu vereinigen und die Vernunft hierüber zufrieden zu stellen“ (A 667/B 695).

Ausgehend von diesem Widerspruch der Naturforscher bringt Kant das Kontinuitätsprinzip mit der Stufenleiter der Geschöpfe von G. W. Leibniz und Ch. Bonnet in Zusammenhang, wenn er formuliert: Genauso wie die Verschiedenheit der Vernunftprinzipien Homogenität und Spezifikation, die, wenn sie für objektive Einsichten gehalten werden, nicht nur zu Streit führen, sondern gleichzeitig die Wahrheit verhindern, sei es mit der „Behauptung oder Anfechtung des so berufenen, von Leibniz in Gang gebrachten und durch Bonnet trefflich aufgestutzten Gesetzes der continuirlichen Stufenleiter der Geschöpfe bewandt“ (A 668/B 696). Kant rekurriert demnach in der Konzeption des Prinzips der Kontinuität als vermittelnde Instanz zwischen Homogenität und Spezifikation auf die philosophiehistorische Linie Leibniz-Bonnet, um mögliche Hindernisse, die durch einen falschen Gebrauch davon entstehen, in Lösungen zu verwandeln.

Für Leibniz bildet das Kontinuitätsprinzip der Natur ein Weltgesetz und es reicht damit über die erfahrbare Stufenordnung der Geschöpfe hinaus. Es garantiert einen Übergang zwischen den Lebensformen, wenn es u. a. heißt: „[I]l est nécessaire, que tous les ordres des Êtres naturels ne forment qu’une seule châine, dans laquelle les différentes classes, comme autant d’anneaux, tiennent […] étroitement les unes aux autres“ (Leibniz 1906, p. 558). Der vorkritische Kant folgt Leibniz in diesem Aspekt[42], wenn er aufgrund der Annahme einer „ewigen Harmonie, die alle Glieder aufeinander beziehend macht“ (NTH AA 1: 365), alles in der Natur in „einer ununterbrochenen Gradfolge“ (NTH AA 1: 365; BüO AA 2: 29ff.) sieht. Der Mensch wiederum bilde dabei einen „gewissen Mittelstand zwischen der Weisheit und Unvernunft“ (NTH AA 1: 365).

Aber auch Bonnet ist in verschiedenster Hinsicht maßgeblich durch die Philosophie Leibnizens beeinflusst und versucht, sie mit jener Spinozas zusammenzuführen (Cheung 2005, pp. 42f.; Cheung 2008, pp. 213–230). Wie aus einem Brief an A. v. Haller vom 8. Mai 1777 bekannt ist, hat Bonnet im Winter 1748 Leibniz’ Théodicée und 1765 die Nouveaux Essais gelesen (Cheung 2005, p. 25) und auf der Basis dieses Studiums den kontinuierlichen Zusammenhang der Wesen u. a. wie folgt erläutert:

Im Universum ist […] alles verbunden; alles steht in ihm in Beziehung; alles trägt zum gleichen Ziel bei. Bis zum geringsten Atom der physischen Welt und bis zur geringsten Idee der verstandesmäßigen Welt gibt es nichts, was nicht seine Verbindung mit dem ganzen System hätte. (Bonnet 1769, p. 356; Bonnet 1755, Kap. 56)

 

Jedes Individuum ist dabei durch die besondere Organisation seines organischen Körpers und durch das allgemeine System doppelt bestimmt. Durch diese doppelte Bestimmung entsteht eine Stufenleiter mit zunehmender Komplexität, die von den Elementen zu den Pflanzen und Tieren über die Menschen bis zur Welt im Ganzen reicht (Cheung 2005, p. 33). Es herrscht darin eine Korrelation zwischen dem Komplexitätsgrad der zusammengesetzten Individuen und ihrer Vollkommenheit. Bereits 1745 hat Bonnet in seiner Studie über die Parthenogenese bei Blattläusen eine solche Stufenleiter der Wesen (Bonnet 1745, p. XXVIII ) angefügt.

Trotz dieser Bezugnahmen auf Leibniz und Bonnet bedeutet für Kant die Kritik der reinen Vernunft eine gänzliche Abkehr von dieser Welt- und Naturmetaphysik. Der zuvor noch in einer ewigen Harmonie gedachten Natur wird nun der Platz eingeräumt, sich selbst in ihren besonderen Formen und Gesetzlichkeiten zu spezifizieren. Es wird ihr Platz geschaffen, indem die auf Abstammung gegründeten Unterschiede und Zusammenhänge für unser Erkenntnisvermögen als „viel zu tief verborgen“ (A 667/B 695) erkannt werden, sodass sie nicht die „Existenz der Dinge unter Gesetzen“ (Prol AA 4: 294; KpV AA 5: 43) – die durch die Grundsätze des Verstandes bestimmt sind – betreffen.

3.3 Transformationen

Noch vor der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft weist Kant in der Rezension Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschen (1785) das Prinzip der kontinuierlichen Gradation der Geschöpfe und die Idee eines gemeinsamen Ursprungs als inakzeptabel zurück (RezHerder AA 8: 53): Die Verwandtschaft der Gattungen, nach der „alle aus einer einzigen Originalgattung oder etwa aus einem einzigen erzeugenden Mutterschooße entsprungen wären, würde auf Ideen führen, die aber so ungeheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt“ (RezHerder AA 8: 54). Während Bonnet in der vorkritischen Periode des kantischen Denkens keine systematische Rolle spielt[43], weist Kant 1788 im Gebrauch der teleologischen Prinzipien in der Philosophie, der eine Antwort auf die Kritik J. G. A. Försters darstellt, in einer Fußnote konkret auf ihn hin: Dabei macht er die „vornehmlich durch Bonnet sehr beliebt gewordene Idee“ (ÜGTP AA 8: 181) der „Verwandtschaft Aller in einer unmerklichen Abstufung vom Menschen zum Wahllfische und so weiter hinab“ (ÜGTP AA 8: 181) verantwortlich für Försters Behauptung, dass alle Naturbildungen, organische wie anorganische, aus der kreißenden Erde in allen ihren Varietäten hervorgegangen seien. Gegen solche „Ideen verdient des Hrn. Prof. Blumenbach Erinnerung (Handbuch der Naturgeschichte 1779. Vorrede § 7) gelesen zu werden“ (ÜGTP AA 8: 180)[44].

Kant bezieht sich demnach sowohl auf Leibnizens Konzept einer wesenhaft bzw. ontologisch aufgefassten kontinuierlichen Stufenleiter der Geschöpfe als auch auf Bonnets heuristisch interpretierte. Er refüsiert aber beide Konzepte aufgrund ihres konstitutiven Gebrauchs und verweist auf Lücken in der postulierten Kontinuität.[45] Kant hebt damit die Konzeption der Stufenleiter der Geschöpfe aus einer vorkritisch-ontologischen Rahmung. In diesem Sinne heißt es: Die Vernunft kann die Natur nur mit den transzendentalen Prinzipien befragen und daraus Vernunftideen entwickeln, aber nicht aus ihr entnehmen, gleichwohl sie diesen zu entsprechen habe (A 646/B 674.; A 650f./B 678f.; B XII.). Die Sprossen einer solchen durch den hypothetischen Vernunftgebrauch gewonnenen Leiter stünden nämlich „viel zu weit aus einander“ (A 668/B 696), sodass „unsere vermeintlich kleine[n] Unterschiede“ (A 668/B 696) in der „Natur selbst […] weite Klüfte“ (A 668/B 696) bilden. Aus diesem Grund seien auf der Basis solcher Erfahrung nicht die „Absichten der Natur“ (A 668/B 696) zu erschließen.

Die kontinuierliche Stufenleiter der Geschöpfe ist nach Kant demnach „nichts als eine Befolgung des auf dem Interesse der Vernunft beruhenden Grundsatzes der Affinität“ (A 668/B 696), sie ist ein heuristisches Prinzip, mit dessen Hilfe allerdings die Einheit der Natur regulativ begriffen wird. Als solches soll sie die Suche nach Übergängen und Zwischengliedern beleben, aber die grundsätzliche Möglichkeit von Lücken offenhalten. Diese heuristisch-pragmatische Argumentation vereint damit sowohl eine Kontinuitätstheorie als auch – unter Verweis auf die Verborgenheit dieser für die menschliche Erkenntnis – Lücken und Klüfte. Mit der Stufenleiter der Geschöpfe ist in der physiologischen Anthropologie ein „System, d. i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis, gegeben“ (MAdN AA 4: 467), das als regulative Idee dazu auffordert, in empirischer Forschung den Zusammenhang der Geschöpfe zu untersuchen.

4 Entwicklungsgeschichte astronomischer Grundannahmen

4.1 Status

Nach Kant bilden die im Weltall beobachtbaren Gestirne und Himmelskörper die Forschungsgegenstände der Astronomie. Diese untersucht die Umlaufbahnen der Planeten um die Sonne und deren spezifische Eigenschaften. Als solche bildet die Astronomie neben der Mechanik, Dioptrik, Hydrostatik, Hydraulik, Katoptrik etc. eine Teildisziplin der angewandten Mathematik bzw. Physik. Methodisch gesehen werden dabei einzelne Beobachtungen mit physikalischen Gesetzen wie der Gravitation verknüpft (Refl AA 16: 789).

Die Astronomie sei eine „empirische Wissenschaft“ (FM AA 10: 259), da sie sowohl durch einen systematischen Rahmen apriorischer Begriffe und Prinzipien gestützt sei als auch einen empirischen Forschungsgegenstand habe. Die Grundlage dieser Disziplinen liege folglich in dem „Gesetz der wechselseitigen Attraction“ (Prol AA 4: 321), mit dem sie die Planetenbewegungen beschreibe. Gleichzeitig enthalte die Astronomie aber auch einen empirischen Teil, weshalb Kant feststellt, dass sie u. a. vom technischen Fortschritt des Teleskops (NTH AA 2: 252f.) abhängig ist.

Die Astronomie habe damit neben einer angewandten Vernunfterkenntnis auch einen „reinen Teil, auf dem sich die apodiktische Gewißheit“ (MAdN AA 4: 469) aller übrigen Naturerklärungen gründe: Sie bilde daher im Gegensatz zur Chemie (MAdN AA 4: 468) noch mehr im Gegensatz zur empirischen Psychologie (MAdN AA 4: 471) eine sogenannte eigentliche Naturwissenschaft.

In § 38 der Prolegomena und der darin beantworteten Frage: Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?, weist Kant diesen reinen Teil der Astronomie, der sie über die uneigentliche Naturwissenschaft als eigentliche etabliert, explizit nach. Dabei deckt er den Zusammenhang zwischen der Konstruktion von Kreisen, Ellipsen, Parabeln sowie Hyperbeln und der physischen Astronomie auf.[46] In dieser Weise führt Kant den Ursprung aller Ordnung in der Natur im Rahmen der Astronomie auf die Geometrie und damit den Verstand zurück, welcher der Grund der Einheit aller Konstruktionshandlungen ist.

Zeichnet die Geometrie des Kegels in § 38 die Astronomie als eigentliche Wissenschaft aus, so ist es die in gleicher Weise angewandte Mathematik, durch die im Anhang zur Transzendentalen Dialektik die Astronomie als rationale Naturwissenschaft etabliert wird. Kant entwickelt demnach im Anhang zur Transzendentalen Dialektik das Beispiel aus der Astronomie erneut, allerdings unter völlig anderen Vorzeichen: Ziel ist es nicht, den reinen Teil der Astronomie zu explizieren und sie damit als eigentliche Wissenschaft zu rekonstruieren, sondern die Einheit der vielfältigen astronomischen Erkenntnis sowie deren Wandel anhand der zugrunde gelegten Prinzipien zu verdeutlichen und damit ihren Satus als sie „rationale Naturwissenschaft“ (MAdN AA 4: 468) aufzuweisen. Ausgehend von diesen Überlegungen entwickelt Kant ein reziprokes Verhältnis zwischen gegebenen Fällen und allgemeinen Gesetzen, wodurch ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis gewährleistet wird.

Als eigentliche Wissenschaft unterscheidet sich die Astronomie von den sogenannten uneigentlichen Wissenschaften, da in ihr, basierend auf den Grundsätzen des Verstandes, eine Konstruierbarkeit der Verhältnisse ihrer Teile möglich ist. Gleichzeitig bildet die Astronomie als eigentliche Wissenschaft eine Teilmenge der rationalen Naturwissenschaft. Wie den uneigentlichen Wissenschaften kommt ihr durch die anhand der transzendentalen Grundsätze der Vernunft erschlossenen Ideen ein systematischer Rahmen zu, der sie als rationale Naturwissenschaft legitimiert.

4.2 Wissenschaftshistorische Bezüge des Anhangs

Im Anhang zur Transzendentalen Dialektik kommt Kant explizit auf die Entwicklungsgeschichte astronomischer Grundannahmen zu sprechen, wenn es heißt:

Daher, wenn uns z. B. durch eine (noch nicht völlig berichtigte) Erfahrung der Lauf der Planeten als kreisförmig gegeben ist, und wir finden Verschiedenheiten: so vermuthen wir sie in demjenigen, was den Cirkel nach einem beständigen Gesetze durch alle unendliche Zwischengrade zu einem dieser abweichenden Umläufe abändern kann, d. i. die Bewegungen der Planeten, die nicht Cirkel sind, werden etwa dessen Eigenschaften mehr oder weniger nahe kommen, und fallen auf die Ellipse. Die Kometen zeigen eine noch größere Verschiedenheit ihrer Bahnen, da sie (soweit Beobachtung reicht) nicht einmal im Kreise zurückkehren, allein wir rathen auf einen parabolischen Lauf, der doch mit der Ellipsis verwandt ist und, wenn die lange Achse der letzteren sehr weit gestreckt ist, in allen unseren Beobachtungen von ihr nicht unterschieden werden kann. (A 662f./B 690f.)

Die Kreis-, Ellipsen-, Parabel- und Hyperbelbewegungen der Planten bilden in der Astronomie eine systematische Einheit, auf die hin jeweils einzelne Beobachtungen der Himmelskörper untersucht werden können. Diese werden im Zuge des hypothetischen Vernunftgebrauchs gewonnen und bilden demnach keinen archimedischen Punkt, sondern unterliegen selbst einem historischen Wandel bzw. einer Entwicklung.[47]

Der Kegel bildet zwischen den von Kant dargestellten Theorien der Bewegungen der Himmelskörper die verbindende geometrische Basis. Der Kreis, die Ellipse, die Parabel wie auch die Hyperbel stammen dabei aus differenten Schnitten dieses geometrischen Körpers: Wird der Kegel vermittelst einer Ebene, die parallel zur Grundfläche verläuft, geschnitten, dann handelt es sich um einen Kreis. Wird hingegen der Einfallswinkel im Kegelschnitt verändert, führt dies zur Ellipse, zur Parabel und zur Hyperbel. Alle vier Kurven stehen somit in einem kontinuierlichen Verhältnis zueinander und können durch eine kontinuierliche Deformation gewonnen werden. Diese Kontinuität zwischen den Kurven ist wiederum die Voraussetzung für eine Theorie des kontinuierlichen Fortschritts in der Geschichte der astronomischen Grundannahmen, wie sie Kant schildert.

Eine naive, unvollständige und „noch nicht völlig berichtigte“ (A 662/B 690) Erfahrung lehre, dass Planeten sich kreisförmig bewegen. Dabei handelt es sich um eine Auffassung, die über die Schule der Pythagoreer, Ptolemaios bis hin zu Kopernikus Geltung hatte – sie überdauerte sogar den Wandel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild. Finden sich aber Unstimmigkeiten in der Beobachtung der Kreisbewegung, werde dem Gesetz der Verwandtschaft nach vermutet, dass sich die Planeten nicht in Form von Kreisen, sondern in Form von Ellipsen bewegen. Der Grund sei darin zu sehen, dass die Ellipse den Eigenschaften des Zirkels „mehr oder weniger nahe komme“ (A 662/B 690) und der Zirkel durch „unendliche Zwischengrade“ (A 662/B 690), d. h. einen kontinuierlichen Übergang, zu einer Ellipse abgeändert werden könne. Wissenschaftshistorisch betrachtet, handelt es sich dabei um die Auffassung Keplers, nach der sich Planeten auf Ellipsenbahnen um die Sonne bewegen, wie das erste keplersche Gesetz festlegt.

Die Bewegung der Kometen weist gegenüber der Kreisbewegung eine noch größere Verschiedenheit ihrer Bahnen auf als die Planeten: Soweit die Beobachtung reiche, zeige sich nämlich, dass die Kometen „nicht einmal im Kreise zurückkehren“ (A 662/B 690). Aus diesem Grund werde, über die Bewegung der Planeten hinausgehend, aus der Verwandtschaft der Ellipse mit der Parabel hypothetisch auf einen parabolischen Lauf der Kometen geschlossen. Werde die lange Achse der Ellipse sehr weit gestreckt, dann könne diese in der Beobachtung von der Parabel nicht unterschieden werden.

Die Erkenntnis, dass sich die Kometen in einem parabolischen Lauf um die Sonne bewegen, wurde demnach aufgrund des hypothetischen Vernunftgebrauchs und seinen transzendentalen Grundsätzen gewonnen, d. h., ausgehend von besonderen Fällen wurde dem Prinzip der Homogenität folgend eine allgemeine Regel erschlossen und von dieser in Form der Spezifikation wieder auf die einzelnen Fälle geschlossen. Damit bilden die Theorien zur Planetenbewegung, d. i. der Kreis, die Ellipse und die Parabel, Vernunftideen, von denen aus die Beobachtung ausgedehnt und jede Abweichung aus demselben Prinzip zu erklären versucht werden kann.

Ausgehend von dem bereits skizzierten Fortschritt der jeweiligen Theorien führt Kant das Planetenbeispiel des Anhangs wie folgt weiter aus:

So kommen wir nach Anleitung jener Principien auf Einheit der Gattungen dieser Bahnen in ihrer Gestalt, dadurch aber weiter auf Einheit der Ursache aller Gesetze ihrer Bewegung (die Gravitation); von da wir nachher unsere Eroberungen ausdehnen und auch alle Varietäten und scheinbare Abweichungen von jenen Regeln aus demselben Princip zu erklären suchen, endlich gar mehr hinzufügen, als Erfahrung jemals bestätigen kann, nämlich uns nach den Regeln der Verwandtschaft selbst hyperbolische Kometenbahnen zu denken, in welchen diese Körper ganz und gar unsere Sonnenwelt verlassen und, indem sie von Sonne zu Sonne gehen, die entfernteren Theile eines für uns unbegrenzten Weltsystems, das durch eine und dieselbe bewegende Kraft zusammenhängt, in ihrem Laufe vereinigen. (A 663/B 691)

Aufgrund der Anleitung der Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität könne, auch wenn es sich um Schlüsse handle, welche die Erfragung weit überschreiten, auf die „Einheit der Gattungen dieser [Planenten-]Bahnen in ihrer Gestalt“ (A 663/B 691) sowie auf „die Einheit der Ursache aller Gesetze ihrer Bewegung (Gravitation)“ (A 663/B 691) geschlossen werden, mit denen Newton die keplerschen Gesetze herleitet. Anhand des Gesetzes der Gravitation als focus imaginarius können, so Kant, sogar hyperbolische Kometenbahnen gedacht werden. In solchen hyperbolischen Kometenbahnen werden die Planetenkörper wiederum so aufgefasst, als ob sie das Sonnensystem verlassen und von Sonne zu Sonne ziehen. Dabei gehen sie in unbekannte Weltsysteme, die allerdings „durch eine und dieselbe bewegende Kraft zusammenhäng[en]“ (A 663/B 691), und vereinigen diese in ihrem Laufe.

Die Astronomie setzt ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes voraus, auch wenn dieses nicht einen Gegenstand im Feld möglicher Erfahrung bildet. Der Kegel steht im Beispiel des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik dabei für die Kontinuität zwischen den einzelnen Fällen und der allgemeinen Regel und legitimiert damit den historischen Wandel der Grundannahmen des Kreises, der Ellipse, der Parabel und der Hyperbel.

4.3 Transformationen

Die transzendentalen Grundsätze der Vernunft und die durch sie erschlossenen Vernunftideen der Kreis-, Ellipsen-, Parabel- und Hyperbelbewegung sind für die astronomische Naturforschung über die Konstruktionshandlungen des Verstandes hinausgehend wichtig, um wissenschaftliche Leitprinzipien zu formulieren und den an den Wandel dieser Prinzipien gebundenen historischen Fortschritt miteinzubeziehen. Die Entwicklung der Grundannahmen in der Astronomie zeigt bereits, dass die durch die Vernunft erschlossenen Ideen, d. h. die Kreis‑, Ellipsen-, Parabel-, und Hyperbelbewegung, keine apodiktischen Gewissheiten bilden, sondern vielmehr heuristisch-pragmatisch angenommene Ideen, durch die ein systematischer Rahmen der jeweils zeitlich bedingten Naturforschung gegeben ist. Dabei handelt es sich um ein Theorieelement, das mit einer Einschränkung auf die Grundsätze des Verstandes undenkbar wäre.

Bemerkenswerterweise hat Kant im Anschluss an den Anhang zur Transzendentalen Dialektik sowohl die dort entwickelte Systematik als auch das konkrete Beispiel der Astronomie im Rahmen der Idee zu einer allgemeinen Geschichte (IaG AA 8: 18) und im Streit der Fakultäten (SF AA 7: 83) wieder aufgegriffen und zu einer Philosphie der Geschichte entwickelt.[48] Kants Interesse gilt dabei nicht der geschichtswissenschaftlichen Methodik oder der Darstellung von Fakten. Sein Ziel ist vielmehr die Generierung eines „Leitfaden[s] a priori“ (IaG AA 8: 30). Durch diesen sollen Auswahlkriterien geben werden, „um diese Menge des historischen Wissens, die Fracht von hundert Kameelen, durch die Vernunft zweckmäßig zu benutzen“ (Anth AA 8: 227) und damit auch einen „regelmäßigen Gang“ (IaG AA 8: 17) des Fortschritts der Grundannahmen zu entdecken. Die über die transzendentalen Grundsätze der Vernunft gewonnenen Ideen der Vernunft dienen als Leitfaden, „ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen“ (IaG AA 8: 29). In diesem Sinne spricht Kant auch von einem „Versuch“ (IaG AA 8: 18, 29, 30, 31) bzw. vom „Wählen“ (IaG, AA 8: 30) eines „besonderen Gesichtspunkt[es] der Weltbetrachtung“ (IaG, AA 8: 30) und weist damit auf deren heuristische Funktion hin.

Das Ziel einer Philosophie der Geschichte ist die Suche nach einer Ordnungsstruktur, d. h. nach einer Perspektive, aus der die Geschichte sinnvollerweise betrachtet werden kann. Dabei sei es mit dem „Lauf menschlicher Dinge“ (SF AA 7: 83) ebenso bestellt wie mit der Bewegung der Planeten: Werden letztere von der „Erde aus gesehen“ (SF AA 7: 83), scheint deren Bewegung chaotisch – „bald rückgängig, bald stillstehend, bald fortgängig“ (SF AA 7: 83). Werde dagegen der „Standpunkt […] von der Sonne aus genommen“ (SF AA 7: 83), gehen sie beständig ihren regelmäßigen Gang.[49]

Der Anhang zur Transzendentalen Dialektik entwickelt die transzendentallogische Struktur des Schließens von dem bedingten Standpunkt auf ein Unbedingtes und reziprok von diesem Unbedingten zurück auf die einzelnen Fälle.

5 Vernunftprinzipien – das Systematische der Erkenntnis

5.1 Heuristisch-pragmatische Legitimation des transzendentalen Grundsatzes der Vernunft

Im ersten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik lockert Kant die strikte Bindung der Vernunftbegriffe an die Ideen Gott, Welt und Seele sowie die im Ersten Buch der Transzendentalen Dialektik eingeführte syllogistische Struktur der Vernunft.[50] Kant entwickelt darin einen Ideenbegriff, den er anhand einer Entlehnung aus Newtons Opticks als focus imaginarius (A 644/B 672)[51] bezeichnet. Die Vernunftideen stellen in diesem Sinne einen perspektivischen Blickpunkt dar, in dem die Regeln des Verstandes zusammenlaufen und aus dem sie erklärt werden können.

Die auf den naturwissenschaftlichen Beispielen gegründete Explikation des Ideenbegriffs birgt dabei die Gefahr einer Reduktion der Allgemeingültigkeit der Ausführungen auf den Stand der Forschung der jeweiligen Zeit. Dabei handelt es sich um eine Gefahr, die Kant bewusst einzugehen scheint, wenn er sich u. a. auf Wissenschaften bezieht, die seiner eigenen Auffassung nach keine strikte Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Kants Ziel ist es demnach nicht, den Ideenbegriff an die jeweiligen Wissenschaften – d. h. die Chemie, die Astronomie und die physiologische Anthropologie – zu binden, sondern eine transzendentallogische Struktur des Schließens auf Ideen zu entwickeln, wobei diese selbst keine Invarianten bilden. Er stellt mit den Grundsätzen der Vernunft einen transzendentallogischen Mechanismus vor, wie Ideen erschlossen und wie bzw. warum sie durch andere Ideen ersetzt werden. In diesem reziproken Verfahren von besonderen Fällen auf eine allgemeine Regel – z. B. auf Stahls Prinzip des Phlogistons, Bonnets und Leibnizʼ Stufenleiter der Wesen oder Keplers Ellipsenbewegung der Planeten – unterliegen die dadurch erschlossenen Ideen selbst dem Fortschritt der Forschung. Aus diesem Grund kommt den Vernunftideen als dem Systematischen der Erkenntnis auch ein anderer Status als den Grundsätzen des Verstandes zu und Kant klassifiziert sie als unbestimmt objektiv gültig. Basierend auf diesem Status ist auch eine transzendentale Rechtfertigung im Sinne oder auch nur in Analogie zu den Verstandesbegriffen unmöglich. Vielmehr verdeutlicht der intensive Gebrauch wissenschaftlicher Beispiele, dass den transzendentalen Grundsätzen der Vernunft und den Ideen aufgrund eines hypothetisch angenommenen Perspektivenwechsels und den dadurch gewonnenen Einsichten auf das „Feld möglicher Erfahrung“ (A 697/B 725) eine Legitimität zukommt. Die Ideen geben somit einen systematischen Rahmen vor, in dem der Naturforscher experimentiert und durch den er sich aufgefordert fühlt, weiter zu rätseln.[52] In diesem Sinne bilden die erschlossenen Prinzipien oder Elemente in der Chemie die Möglichkeit, die chemischen Verhältnisse nicht nur empirisch zu prüfen, sondern auf ein Prinzip hin zu untersuchen. Die Stufenleiter der Geschöpfe wiederum fordert den Naturforscher auf, dort wo sich Lücken und Klüfte zeigen, weitere zu suchen. Dabei wird in all diesen Disziplinen in Form eines Als-Ob angenommen, dass die jeweiligen Grundannahmen wahr sind und darauf aufbauend mögliche Folgerungen und Hypothesen über den systematischen Zusammenhang antizipiert. Im Rahmen der heuristisch-pragmatischen Argumentation ist zentral, dass weder die Chemikerin bzw. der Chemiker noch die Anthropologin bzw. der Anthropologe durch ein Rechtsverfahren dazu verpflichtet ist, tatsächlich zu glauben, dass diese Ideen existieren, vielmehr wird der Fortschritt der Forschung diese ersetzen oder in ihrem Recht bestätigen. Anhand der Entwicklungsgeschichte der astronomischen Grundannahmen und deren systematischen Zusammenhang hat Kant genau dies exemplifiziert.

Kant integriert damit über den Objektbezug des Denkens hinaus eine metareflexive Perspektive, auf die hin Erkenntnisse geordnet und von der aus Zusammenhäng in der Natur deutlich werden sollen. Deren mittelbarer Einfluss auf die Objekte der Forschung weist dabei auf, dass es sich nicht bloß um logisch-präskriptive, sondern objektiv-deskriptive Annahmen handelt, in dem Sinne, dass durch sie etwas über die Natur ausgesagt wird, ohne aber Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zu sein. Die Beispiele des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik zeigen folglich, dass der Grundsatz der Vernunft nicht bloß durch „einen Mißverstand für einen transscendentalen Grundsatz der reinen Vernunft gehalten“ (A 309/B 365f. ) wird, sondern eine entsprechende Legitimität in der Naturforschung hat. Das bedeutet, auch wenn die metaphysisch-ontologischen bzw. epistemisch-methodischen Rechtfertigungsversuche der Vernunftbegriffe ohne Erfolg bleiben, ist der transzendentale Status dieser Prinzipien und der durch sie erschlossenen Ideen nicht in Frage gestellt, da mit ihnen etwas über die Natur ausgesagt wird, ohne allerdings von diesen aus die Natur zu konstituieren. Vielmehr wird ein Zweckbegriff explizit gemacht, der in reziprokem Verhältnis zu den einzelnen Fällen steht und daher nicht bloß begriffliche Abstraktion ist.

Kant führt diesbezüglich in der Transzendentalen Dialektik zwei Unterscheidungen ein: Erstens differenziert er zwischen einem logischen und einem realen Vernunftgebrauch sowie zweitens zwischen einem regulativen und einem konstitutiven Vernunftgebrauch. Dabei bezieht sich die zweite Unterscheidung bereits auf den realen Vernunftgebrauch. In ihr wird eine Differenzierung hinsichtlich der Interpretation des Unbedingten vorgenommen und nicht nur des (logischen) Verhältnisses von Bedingungen. Konstitutiv werde die Vernunft dabei gebraucht, wenn die Naturforschung bei den höchsten Prinzipien beginnt und die vollständige zweckmäßige Einheit im „Wesen der Dinge“ (A 694/B 722) und den „allgemeinen und notwendigen Naturgesetzen“ (A 694/B 722) selbst vorausgesetzt wird. In diesem Sinn erweise sich die Vernunft als verkehrte und faule Vernunft (A 691/B 719), da sie die Anstrengungen scheue, die ihr ein kritisches Denken aufbürde. Regulativ betrachtet sei die systematische bzw. vollständige zweckmäßige Einheit hingegen „die Schule und selbst die Grundlage der Möglichkeit des größten Gebrauches der Menschenvernunft“ (A 695/B 723). Als solche erlaube sie in rechtmäßiger Weise den Umweg über eine fiktive Welt der Ideen, um damit die Gegenstände im Feld möglicher Erfahrung noch einmal zu sehen und zwar so, wie sie uns „im Rücken liegen“ (A 644/B 672) – also nicht, wie sie uns erscheinen, wenn sie „uns vor Augen sind“ (A 644/B 672) und erkannt werden. Ohne Vernunft wäre der Verstand demnach auf den engen Umkreis der Erfahrung angewiesen und könnte über diesen nicht hinausgehen. Kant kritisiert in diesem Sinne in allen drei Disziplinen der metaphysica specialis die konstitutive Verwendung des Grundsatzes der Vernunft und der Ideen, aber nicht den Grundsatz der Vernunft selbst.

5.2 Ideelle Interpretation der Vernunftideen

Der Grundsatz der Vernunft und die durch ihn erschlossenen Ideen bieten die transzendentallogische Struktur, durch die eine Naturlehre mit Blick auf Kants Einteilung von 1786 zur rationalen Naturwissenschaft werden kann. Dabei zerfällt diese in eine eigentliche und eine uneigentliche Naturwissenschaft. Über die Eigenschaften hinaus, die durch den Status der rationalen Naturwissenschaft bestimmt werden – das ist der systematische Zusammenhang nach einem Prinzip –, zeichnet sich die eigentliche Wissenschaft durch einen reinen Teil aus, „auf dem sich die apodiktische Gewißheit“ (MAdN AA 4: 469) der Verhältnisse ihrer Teile bestimmen lässt. Den uneigentlich genannten Wissenschaften hingegen kommt diese Gesetzmäßigkeit nicht zu. 

Die Chemie und wie gezeigt wurde auch die physiologische Anthropologie bilden solche uneigentlichen Wissenschaften, da in ihnen Vernunftideen, d. h. einmal die Elemente und Prinzipien und einmal die Stufenleiter der Geschöpfe, vorgegeben sind, auf die hin und von denen aus die einzelnen Verbindungen der Stoffe bzw. der Lebewesen untersucht werden, ohne sie auf der Basis der Grundsätze des Verstandes zu konstruieren (MAdN AA 4: 470f.). Die Astronomie hingegen weist mit dem Gravitationsgesetz einen reinen Teil auf und zeichnet sich dadurch als eigentliche Wissenschaft aus. Über ihre Charakterisierung als eigentliche Wissenschaft ist sie der Einteilung der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft gemäß auch als rationale Naturwissenschaft gekennzeichnet und weist damit einen Zusammenhang nach Prinzipien auf. Eine empirische Wissenschaft wie die Astronomie umfasst aus diesem Grund sowohl die konstitutiven Grundsätze des Verstandes, die auf das Feld möglicher Erfahrung gerichtet sind und eine Verknüpfung der Erkenntnis durch Gründe und Folgen leisten, sowie die regulativen Grundsätze der Vernunft, die nicht unmittelbar auf das Feld möglicher Erfahrungen gerichtet sind, sondern Maximen des Forschens (A 666/B 694) bilden.

Kant anerkennt zwei nicht aufeinander reduzierbare Gesetzmäßigkeiten im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft und wendet sie auch in der Klassifikation der Naturlehre in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft an: einerseits die Subsumtion eines bestimmten Falles unter ein gegebenes Gesetz – der Grundsatz des Verstandes –, andererseits das heuristische Schließen von gegebenen Fällen auf eine noch nicht gegebene Regel (Idee) und die Antizipation von möglichen Fällen unter dieses Gesetz – der Grundsatz der Vernunft.

Beide Gesetzmäßigkeiten sind ihrer transzendentallogischen Struktur nach verschieden und lassen sich daher nicht aufeinander reduzieren, wie Kant auch in der Einteilung der Naturlehre in der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft deutlich macht. Aus diesem Grund ist die kategorische Interpretation der Einteilung der Naturlehre und damit eine Reduktion des Status der rationalen Naturwissenschaft auf die Tafel der Kategorien bzw. auf die Grundsätze des Verstandes einseitig. Sie berücksichtigt nicht die in der Kritik der reinen Vernunft unabhängig vom Verstand entwickelte Gesetzmäßigkeit der Vernunft, auch wenn diese auf den Verstand bezogen ist. Gleichzeit zeigt sich aber auch, dass sich die rationale Naturlehre nicht bloß über eine Einordnung von Urteilen und Begriffe legitimieren lässt. Vielmehr wird durch den Prozess des Suchens nach immer höheren Bedingungen die jeweils erschlossene Bedingung als Unbedingtes angenommen und damit eine Idee, die in Form eines Als-Ob den systematischen Rahmen einzelner Disziplinen schafft. In diesem Sinne reicht auch die systematische Interpretation der rationalen Naturwissenschaft zu kurz.

 

6 Resümee

In Form einer wissenschaftstheoretischen Problematisierung der Beispiele des ersten Teils des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft wurden in dieser Untersuchung Kants transzendentaler Grundsatz der Vernunft sowie seine Prinzipien (Homogenität/Spezifikation/Kontinuität) und die durch diese Grundsätze erschlossenen Vernunftideen analysiert. Ideen bilden nach Kant dabei focii imaginarii, wie sie in Stahls Prinzipienchemie in Form der Elemente der reinen Erde, des reinen Wasser, der reinen Luft etc. oder in Leibnizʼ und Bonnets physiologischer Anthropologie in Form der Stufenleiter der Geschöpfe oder mit Blick auf die Entwicklungsgeschichte astronomischer Grundannahmen in Form der Kreis-, Ellipsen-, Parabel- und Hyperbelbewegung der Planeten gegeben sind.

Kant bedient sich im ersten Teil des Anhang zur Transzendentalen Dialektik so ausführlich dieser wissenschaftstheoretischen Beispiele, da er durch sie den transzendentalen Status des Grundsatzes der Vernunft und die durch ihn erschlossenen Vernunftideen darstellen und in praktischer Weise sowie in pragmatischer Hinsicht legitimieren kann. In diesem Sinne stellt die Argumentation entgegen einer metaphysisch-ontologischen und epistemologisch-methodischen Argumentationsstrategie eine zwar viel schwächere, aber dennoch ausreichend begründete heuristisch-pragmatische Rechtfertigung basierend auf den naturwissenschaftlichen Verweisen Kants vor.

Diese heuristisch-pragmatisch legitimierten Grundsätze der Vernunft und ihre Ideen bilden wiederum die Voraussetzung für Kants Klassifikation der Naturlehre als rationale Naturwissenschaft. Sie zeichnet sich durch ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes aus. Entgegen der kategorialen und systematischen Interpretation wurde demnach ausgehend von den Beispielen des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik für eine ideelle Interpretation argumentiert. Dieser folgend lässt sich die Gesetzmäßigkeit rationaler Naturwissenschaft nicht auf die Grundsätze des Verstandes zurückführen. Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft vielmehr neben den Grundsätzen des Verstandes mit den Grundsätzen der Vernunft eine Gesetzmäßigkeit entwickelt, der ein eigenständiger Status zukommt. Gleichzeitig ist aber entgegen der systematischen Interpretation nicht nur das Bedingungsgefüge von wissenschaftlichen Urteilen und Begriffen für die Systematisierung relevant, sondern darüber hinaus eine hypothetisch angenommene Vernunftidee, wie sie in Stahls Prinzipienchemie, Leibnizʼ und Bonnets physiologischer Anthropologie sowie Keplers Theorie der Planetenbewegung vorliegt.

Acknowledgement

This research was supported by the Russian Academic Excellence Project at the Immanuel Kant Baltic Federal University.

 

 

 

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· Dr. Rudolf Meer is post-doc researcher at the Center of History of Science, University of Graz and research assistant in the Project Kantian Rationality and Its Impact in Contemporary Science, Technology, and Social Institutions (PI: Prof. Thomas Sturm - No. 2019-220-07-5933) His areas of specialization are Kant’s theoretical philosophy, the realism/non-realism debate, and the relations between philosophy and history of science. E-Mail: rudolf.meer@uni-graz.at

[1] Für einen Überblick zu den aktuellen Kontroversen um den Anhang zur Transzendentalen Dialektik siehe Willaschek (2018, pp. 17–98); Ypi (2017, pp. 163–165); Thöle (2000, pp. 113–148); Meer (2019a, pp. 3–8); Grier (2001, pp. 261–270); Klimmek (2005, pp. 17–51).

[2] Der von Kant immer wieder verwendete Plural im Begriff Grundsätze der Vernunft (A 306/B 363; A 308/B 365; A 661/B 689; A 663f./B 691–A 668/B 696) bzw. auch Prinzipien der Vernunft (A 651/B 679) bezieht sich auf die Dreiteilung von Homogenität, Spezifikation und Kontinuität als transzendentallogische Struktur des einen transzendentalen Grundsatzes der Vernunft (A 307/B 364; A 648/B 676; A 650/B 678). Siehe dazu Fußnote 11.

[3] Die transzendentalen Vernunftbegriffe sind in der metaphysisch-ontologischen Argumentation aufgrund ihres Verhältnisses auf eingebildete Gegenstände (A 570/B 698) bzw. auf ein „Analogon von einem Schema der Sinnlichkeit“ (A 665/B 693) legitimiert, die unter diese Ideen subsumiert werden. Es kommt demnach zu einer Objektivierung bzw. Hypostasierung der Vernunftbegriffe. Diese Argumentationsstrategie findet sich überwiegend im zweiten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik (A 673/B 701), aber auch schon am Ende des ersten Teils (A 664f./B 692f.). Siehe dazu La Rocca (2011, pp. 29–47); Rescher (2000, pp. 283–328); Pilot (1995, pp. 155–192); Allison (2004, p. 438); Wartenberg (1992, p. 232).

[4] Die transzendentalen Prinzipien bzw. transzendentalen Ideen sind in der epistemologisch-methodischen Argumentation den logischen Maximen vorausgesetzt, da durch diese die letzteren allererst ermöglicht werden (siehe A 650f./B 678f.; aber auch A 307f./B 364; mit Blick auf das Prinzip der Spezifikation A 656/B 684; auf das Prinzip der Homogenität A 653f./B 681f.; auf das Prinzip der Kontinuität A 657/B 685; im zweiten Teil des Anhangs u. a. A 671/B 699). Siehe dazu Caimi (1995, p. 315); Zöller (1984, pp. 257–271); Klimmek (2005, p. 64); Horstmann (1997, pp. 109–130).

[5] Durch die Suche nach den Bedingungen des Bedingten wird in der heuristisch-pragmatischen Argumentation die Erkenntnis erweitert und dabei hypothetisch angenommen, dass diese Bedingungen existieren. Durch diese Erweiterung werden wiederum neue Einsichten erzeugt, die durch den Verstand bestätigt werden können. Gerechtfertigt ist der transzendentale Gebrauch der Vernunftprinzipien bzw. -ideen demnach durch ihre heuristische und pragmatische Funktion im Prozess der Erkenntnis (u. a. A 663/B 691). Siehe dazu vor allem die Ausführungen von Willaschek (2018, pp. 128ff.).

[6] Zu weiteren, ähnlich gelagerten Differenzierungen des Forschungsstandes siehe Zocher (1958, p. 58); Buchdahl (1984, p. 98); Bondeli (1996, p. 172); Allison (2004, p. 438); Wartenberg (1992, p. 232).

[7] Trotz des zunehmenden Interesses an der systematischen Relevanz des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik und seiner Bedeutung für Kants Konzeption von Naturwissenschaft (u. a.: Kitcher 1986, pp. 201–235; Marcucci 1988, pp. 43–69; Watkins 2000, pp. 70–89; McNulty 2015, pp. 1–10; Massimi 2017, pp. 63–84) bleiben die wissenschaftshistorischen Quellen zum regulativen Vernunftgebrauch bis dato unterbelichtet.

[8] Alle Gesetzmäßigkeiten, die in Form einer Notwendigkeit vorgetragen werden, stehen in einem indirekten Verhältnis zu den Grundsätzen des Verstandes. Systematizität ist demnach nur ein zusätzliches Hilfsmittel für Erfahrungsgesetze, die allerdings keinen eigenständig begründeten Status aufweist (siehe dazu Friedman 1992a, pp. 161199; 1992b, pp. 165–201; 1992c, pp. 73102).

[9] Der Zusammenhang von Begriffen – in einer Hierarchie von wissenschaftlichen Urteilen und deren Annäherung an ein Ideal – bildet eine eigene Quelle für die Notwendigkeit von Gesetzen und ist damit unabhängig von den Grundsätzen des Verstandes zu explizieren. In unterschiedlichen Ausführungen entwickeln dies Buchdahl (1966, pp. 209–226; 1971, pp. 24–46); Kitcher (1986, p. 215); Rush (2000, p. 847); Guyer (2003, p. 287); Van den Berg (2011, pp. 11–16).

[10] Die über die transzendentalen Grundsätze der Vernunft gewonnenen Ideen werden im Sinne eines Als-Ob apodiktisch angewandt und bilden eine eigene Quelle für apriorische Gesetzmäßigkeit. Siehe dazu insbesondre McNulty (2015, pp. 4–7); Massimi (2014, pp. 491–508); Henschen (2014, pp. 20–29) sowie Watkins (2014, pp. 471–490).

[11] Kant differenziert zwischen Vernunftprinzipien der Homogenität, der Spezifikation, der Kontinuität und den Vernunftideen Gott, Welt, Seele. Dabei weisen die Einleitung und der erste Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik enge Bezüge auf, die sich nicht nur inhaltlich (Willaschek 2018, pp. 107ff.; Horstmann 1998, pp. 527), sondern auch strukturell (Meer 2019b, pp. 7–29) nachweisen lassen. Die Explikation der Vernunftideen Gott, Welt und Seele im zweiten Teil des Anhangs ist wiederum in einem engen Verhältnis zu den Ausführungen des Ersten Buches der Transzendentalen Dialektik zu sehen (Willaschek 2018, pp. 167ff.; Klimmek 2005, p. 40; Meer 2019a, pp. 84ff.).

[12] Im zweiten Teil des Anhangs sind die Referenzen auf die Naturforschung weniger konkret. Im Mittelpunkt stehen der Gottesbegriff und eine Auseinandersetzung mit seiner deistischen und theistischen Interpretation. Allerdings werden in Bezug darauf auch naturwissenschaftliche Fragestellungen entwickelt, insbesondere wenn Kant explizit auf die Erdgeschichte bzw. die physische Geographie und die Physiologie der Ärzte (A 687/B 715) zu sprechen kommt.

[13] Kant spricht im ersten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik von Vernunftideen wie reine Erde, reines Wasser, reine Luft, die Stufenleiter der Geschöpfe sowie die Kreis-, Ellipsen-, Parabel- und Hyperbelbewegung der Planeten. Es ist daher ein Ideenbegriff im engen Sinne, unter den die Begriffe Gott, Welt und Seele fallen, von einem Ideenbegriff im weiteren Sinne zu unterscheiden, unter den die hier genannten Konzepte zu subsumieren sind (McLaughlin 2014, p. 557). Dabei ist es nicht der jeweilige Inhalt der Ideen, der die systematische Einheit schafft, sondern der durch diese Begriffe erschlossene reflexive Standpunkt (Massimi 2017, p. 64).

[14] Dabei handelt es sich um eine Differenzierung, die Kant in den 70er Jahren (Refl AA 17: 99–713) entwickelt. Dort unterscheidet er einen empirischen bzw. physischen und einen metaphysischen bzw. hyperphysischen Grundsatz (Refl AA 18: 222; siehe auch Refl AA 18: 357, 380, 389; sowie: Birken-Bertsch 2006, pp. 145–154; Guyer 1997, pp. 391–396).

[15] Der „eigenthümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt (im logischen Gebrauche)“ (A 307/B 364) bestehe darin, „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird“ (A 307/B 364). Eine solche Maxime sei demnach nur ein „Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrat unseres Verstandes“ (A 306/B 362). Mit einem solchen werde keine substanzielle Aussage über Gegenstände der Erfahrung gemacht. Siehe dazu auch A 648/B 676 und A 655/B 683 im ersten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik.

[16] Der transzendentale Grundsatz der reinen Vernunft als „oberste[s] Prinzip der reinen Vernunft“ (A 308/B 365) hingegen besagt: „[W]enn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben“ (A 307f./B 364). Dabei handle es sich um einen synthetischen bzw. transzendentalen Grundsatz, da sich das Bedingte nicht nur wie im analytischen Grundsatz auf eine Bedingung beziehe, sondern „aufs Unbedingte“ (A 308/B 364). Transzendental ist der Grundsatz der Vernunft, wenn er „die systematische Einheit nicht bloß subjectiv und logisch=, als Methode, sondern objectiv nothwendig machen würde“ (A 648/B 676). In diesem Sinne definiert Kant die Prinzipien der Sparsamkeit der Grundursachen (Homogenität), der Mannigfaltigkeit der Wirkungen (Spezifikation) und der Verwandtschaft der Glieder (Kontinuität) der Natur als „Grundsätze“ (A 661/B 689), die „vernunftmäßig und der Natur angemessen“ (A 661/B 689) sind (A 657/B687, A 654/B 682).

[17] In diesem Sinne argumentieren Grier (2001, p. 122, p. 269), Allison (2004, p. 339), Renaut (1998, p. 356), Stang (2016, p. 290), Proops (2010, p. 456) und Kreines (2015, p. 115) dafür, dass die zu vermeidende transzendentale Illusion in der Verwechslung von subjektiven und objektiven Prinzipien besteht und dem regulativen Vernunftgebrauch kein transzendentaler Status zukommt, sondern dass er eine rechtmäßige Verwendung nur als subjektive und logische Maxime der Ordnung hat. Damit fällt aber das logische Prinzip mit dem regulativen zusammen und damit Kants zweistufige Unterscheidung zwischen logischem und realem Vernunftgebrauch sowie regulativem und konstitutivem Vernunftgebrauch (siehe dazu die Kritik von Willaschek 2018, pp. 103f., pp. 116ff.; Anderson 2015, pp. 281ff.; Massimi 2017, pp. 68–72).

[18] Viele Interpretinnen und Interpreten haben die generelle Relevanz eines transzendentalen Grundsatzes der Vernunft und des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik im Rahmen der ersten Kritik bestritten, dabei allerdings zu wenig seine Funktion für Kants Philosophie der (Natur-)Wissenschaften berücksichtigt (u. a. Serck-Hanssen 2011, p. 67; Baum 2001, p. 34; Henrich 1976, p. 39).

[19] Zum Verhältnis der kantischen Klassifikation der Naturwissenschaft in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und der Kritik der reinen Vernunft siehe insbesondere Van den Berg (2011, pp. 11–16), aber auch Plaass (1965, p. 38); Pollok (2001, pp. 58f.); Watkins (1998, p. 568). Zur Bedeutungsverschiebung dieser Klassifikation der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft gegenüber den Prolegomena siehe Pollok (2001, pp. 61f.).

[20] Kant differenziert Naturwissenschaft hier zweifach, entwickelt aber in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft nur die Körperlehre (MAdN AA 4: 468). Zur Relevanz dieser Unterscheidung für die empirische Psychologie siehe u. a. Sturm 2006, pp. 353–377; Nayak/Sotnak 1995, pp. 133–151.

[21] Basierend auf der kategorischen Interpretation (siehe dazu Fußnote 8) der Einteilung der Naturlehre ist diese für Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zentrale Differenzierung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Wissenschaft nicht aufrechtzuhalten (Kitcher 1994, p. 258). Wird die Gesetzmäßigkeit zum Beispiel der Chemie auf die Grundsätze des Verstandes zurückgeführt, muss auch die uneigentliche Wissenschaft selbst (indirekt) in einem Verhältnis zur eigentlichen Wissenschaft stehen. Zudem wird die hierarchisch organisierte Unterscheidung zwischen rationaler Wissenschaft und eigentlicher Wissenschaft fragwürdig (Meer 2018, pp. 344–347).

[22] Der systematischen Interpretation folgend (siehe dazu Fußnote 9) beruht die Gesetzmäßigkeit rationaler Naturwissenschaft lediglich auf dem Zusammenhang von wissenschaftlichen Begriffen und Urteilen, der durch den Grundsatz der Vernunft geleistet wird. Dies führt dazu, dass es offenbleibt, wie der Zusammenhang mit Folgeschlüssen die Notwendigkeit dieser Gesetze legitimiert (McNulty 2015, p. 3). Darüber hinausgehend wird hier argumentiert, dass den hypothetisch erschlossenen Vernunftideen (den Prinzipien der Chemie, der Stufenleiter der Geschöpfe in der physiologischen Anthropologie, der Kreis-, Ellipsen-, Parabel- und Hyperbelbewegung in der Astronomie) ein wesentlicher Beitrag – als oberster Probierstein der Wahrheit – in der Legitimation der Notwendigkeit solcher Gesetzmäßigkeiten zukommt.

[23] In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von 1786 ist eine auf messbare Größen und Eigenschaften gerichtete Chemie (Stark 2013, p. 246; Friedman 1992b, pp. 282–288) für Kant kein entscheidender Faktor, obwohl sich in der Danziger-Physik-Nachschrift von 1785 bereits einige Hinweise dazu finden. Diese Position Kants bricht allerdings im Zuge der 90er Jahre zunehmend auf. Kant wendet sich, wie aus Briefen und Reflexionen bekannt ist, zunehmend von Stahl ab und zu Lavoisier hin. Dieser Prozess der Abkehr und Neuorientierung findet spätestens 1797 in der Metaphysik der Sitten eine pointierte Formulierung: „[E]s giebt nur Eine Chemie (die nach Lavoisier)“ (MS AA 6: 206; siehe auch Anth AA 7: 326). Kants Abkehr von Stahl zu Lavoisier lässt sich demnach zwischen 1785 und 1797 festmachen und hat in der Forschung verschiedenste Positionen evoziert. Dabei stehen sich, die Datierung betreffend, schematisch skizziert drei Lager gegenüber: Jene Positionen, die Kants Bekehrung zu Lavoisier bereits in den 80er Jahren verankern, jene, die die Wende noch vor dem Jahr 1795 datieren, und jene, die sie mit dem Jahr 1795 identifizieren (für einen Überblick siehe Friedman 1992b, pp. 282–288; Carrier 2001, pp. 205–230; McNulty 2019, pp. 1595–1622).

[24] Zum Spannungsverhältnis von Chemie und Physik siehe McNulty (2017, p. 87); Friedman (1992b, pp. 264–316); Lequan (2000).

[25] Obwohl die Kräfte in der Chemie analog zur Gravitation konzipiert sind, weisen sie nach Newton grundlegende Unterschiede auf: Erstens variiert die Stärke der chemischen Attraktion im Unterschied zur Gravitation, die auf alle Substanzen nur aufgrund des Verhältnisses der Massen wirkt, substanzspezifisch. Zweitens weisen interpartikulare Kräfte einen Sättigungspunkt auf, über dem keine weitere Attraktion mehr erfolgt. Newton deutet mit diesem zweiten Aspekt bereits ein Kriterium an, anhand dessen die Stärke der Affinität bestimmt werden kann: Je größer die Affinität ist, umso größer wird die zur Sättigung erforderliche Menge des Reaktionspartners (Newton 1730, p. 380).

[26] Darin sind die Elemente in der Reihenfolge ihrer abnehmenden Affinität angeordnet. Verdrängt ein Stoff einen anderen aus der Verbindung mit einer dritten Substanz, dann ist seine Affinität zu jener größer (Geoffroy 1718, p. 202). Zu den Kontinuitäten und Brüchen zwischen Newton und Geoffroy siehe Thackray (1970, pp. 90–95); Stengers (1998, pp. 550f.); Carrier (1986a, pp. 329f.); Duncan (1996, p. 37).

[27] Zur Geschichte der Tafeln der Affinitäten siehe Duncan (1996, pp. 110–176); Klein (1994).

[28] In vergleichbarer Weise argumentiert Stahl: „Die Chymie […] ist eine Kunst, die gemischten, oder zusammengesetzten, oder zusammengehäufften (aggregata) Körper, in feine principia zu zerlegen, oder aus solchen principiis zu dergleichen Körper wieder zusammen zu fügen.“ (Stahl 1720b, p. 1)

[29] Basierend auf dieser kantischen Feststellung differenziert sich die hier entwickelte Analyse der Notwendigkeit empirischer Gesetze der Chemie von jener McNultys (2015, pp. 1–10), der ausgehend vom Anhang zur Transzendentalen Dialektik und mit Verweis auf A 159/B 198 eine stärkere Notwendigkeitskonzeption beansprucht.

[30] Terminologisch legt Stahl in den Zufälligen Gedancken fest, dass das Phlogiston „das erste, eigentliche, gründliche brennliche Wesen […] von seinen allgemeinen Würkungen benennt, die es in allerley […] Vermischungen erweiset. Und dieser wegen habe ich es mit dem Griechischen namen Phlogiston, zu Teutsch brennlich belegt.“ (Stahl 1718, p. 80)

[31] Nach Stahl gibt das Salz dabei die „cörperliche Größe, Schwehre, Dichte und Festigkeit, Feuerbeständigkeit und Schmeltzlichkeit (Stahl 1718, p. 73). Das Schwefelprinzip sei für die Farbe und Verbrennung zuständig. Das Phlogiston wiederum sei die Ursache aller Verbrennung und Verkalkung. Das Quecksilber sei verantwortlich für die metallischen Eigenschaften, d. i. „Schmeidigkeit“ (Stahl 1718, p. 73) und „Zähigkeit“ (Stahl 1718, p. 73)

[32] In diesem Sinne tritt Stahl, der Auffassung Kants nach, auch „in der Qualität […] eines bestallten Richters“ (B VIII) auf, der mit Prinzipien und nach diesen ausgerichteten Experimenten die Natur befragt.

[33] Dies führt ihn auf ontologischer Ebene zur Akzeptanz der Korpuskulartheorie: „Was wir jetzund von den allerkleinesten natürlichen Corpusculis gesagt haben, deutet an, daß die anfänglichen einfachen Corpuscula, welche man vulgo principien nennet, eben die undurchdringliche und würckliche dichten Theile sind, weil sie weiter in sich keine Resolution zulassen können.“ (Stahl 1720a, p. 17) Stahl nimmt demnach Korpuskeln an, lehnt diese aber auf der Erklärungsebene chemischer Prozesse ab (Partington 1962, 2. Bd., p. 665; Carrier 1986b, p. 5).

[34] In diesem Sinne stellt sich Stahl – mit explizitem Bezug auf Aristoteles, aber implizit gegen Kant – auch vehement gegen die Kontinuitätstheorie der Materie, da im Rahmen seiner Prinzipienchemie die Elemente aus den jeweiligen Verbindungen zu destillieren sind (Stahl 1720a, pp. 12ff.).

[35] Dabei gewinnt die zweite der beiden Beschreibungen der Prinzipien in Stahls Entwicklung – vor allem aufgrund des zunehmenden Drucks, die Chemie von nicht empirisch überprüfbaren Bestandteilen zu befreien – zunehmend an Bedeutung (Carrier 1990, p. 198; Klein 1994, p. 46).

[36] Würden sich die Elemente in der chemischen Untersuchung differenzieren lassen, wäre die gesamte Argumentation zirkulär, denn durch diese Prinzipien sollen die Eigenschaften von Substanzen beschrieben werden, weshalb sie nicht selbst Untersuchungsgegenstand sein können (Carrier 1990, p. 198). Werden die Elemente aber bloß als abstrakte Entitäten aufgefasst, bleibt die Verbindung zu den darunterfallenden Varietäten ungeklärt.

[37] Kant hat dabei in erster Linie die Anthropologie E. Platners vor Augen, wie insbesondere Herz’ Rezension zu Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise zeigt (Herz 1773, pp. 25–51; dazu auch Thiel 2007, pp. 139–161; Sturm 2009, p. 265).

[38] Siehe dazu auch Sturm (2009, pp. 307f.); Thiel (2014, pp. 963983).

[39] Zu diesem Spannungsverhältnis siehe auch Sturm (2006, pp. 353–377); Gouaux (1972, pp. 237–242); Hatfield (1998, pp. 423–428); Leary (1982, pp. 17–42); Mischel (1967, pp. 599–622); Nayak/Sotnak (1995, pp. 133–151).

[40] Ich folge in diesem Punkt – entgegen Kim (1994, p. 95), Wood (1999, pp. 196f.; 2004, p. 39, pp. 45f.) und Zammito (2001, p. 298) – Sturm (2009, p. 289): „Eben weil Kant die physiologischen Anthropologien nicht wirklich mit prinzipiellen epistemologischen oder methodologischen Einwänden angreift, bestreitet er auch nicht, dass sich dieser Ansatz irgendwann einmal zu einer Wissenschaft entwickeln kann.“

[41] Zum wissenschaftshistorischen Kontext siehe Cheung 2006, pp. 319–339; Lovejoy 1985.

[42] „Wenn es mir gelungen hat, in der Sache des Herrn von Leibniz einige Fehltritte wahrzunehmen, so bin ich dennoch auch hierin ein Schuldner dieses großen Mannes, denn ich würde nichts vermocht haben ohne den Leitfaden des vortrefflichen Gesetzes der Continuität, welches wir diesem unsterblichen Erfinder zu danken haben, und welches das einzige Mittel war, den Ausgang aus diesem Labyrinthe zu finden.“ (GwS AA 1: 181)

[43] Mit Ausnahme von GUGR AA 2: 381.

[44] An besagter Passage (Blumenbach 1814, pp. 13–16) entwickelt Blumenbach eine Widerlegung der Evolutionshypothese, die sich dann in der neuerlichen Aufnahme der physiologischen Anthropologie in § 81 der Kritik der Urteilskraft wiederfindet (KU AA 5: 423f.).

[45] Der entscheidende Gewährsmann Kants im Verweis auf diese Lücken ist dabei bereits 1781 der Naturforscher Blumenbach, dessen Bedeutung am Ende der 80er Jahre immer zentraler wird (Br AA 11: 184f.; KU AA 5: 424; ÜGTP AA 8: 180). Siehe dazu u. a. Zammito (2007, pp. 51–74).

[46] Das Gesetz der Attraktion beruhe demnach „blos auf dem Verhältnisse der Kugelflächen von verschiedenen Halbmessern“ (Prol AA 4: 321). Aus diesem Grund können nicht nur alle möglichen Bahnen der Himmelskörper in Kegelschnitten dargestellt werden, sondern auch die jeweiligen Verhältnisse untereinander alleine durch das „Gesetz der Attraction als das des umgekehrten Quadratverhältnisses der Entfernungen zu einem Weltsystem als schicklich erdacht werden“ (Prol AA 4: 321).

[47] Mit dieser Verbindung von Astronomie und Philosophie der Geschichte folgt Kant einer Tradition, wie er sie insbesondere über G.-L. L. Buffon kennt, der die Epigenese der Menschheit ebenfalls in einer Parallele zur Astronomie denkt (Dougherty 1990, p. 261; Brandt 2007, p. 190; Motta 2015, pp. 470f.).

[48] Zur Funktion und Bedeutung der Philosophie der Geschichte in Kants theoretische Philosophie siehe Angehrn (2004, pp. 328–351); Sturm (2009, pp. 354–363); Yovel (1989); Brandt (2003, pp. 125f.).

[49] Zu den Kontinuitäten und Brüchen von Kants Konzeption einer Philosophie der Geschichte zwischen der Idee zu einer allgemeinen Geschichte und dem Streit der Fakultäten siehe Brandt (2003, p. 127); Cheneval (2002, pp. 401f.); Kleingeld (1995, pp. 10f.).

[50] Dies ermöglicht es Kant, auch in der Kritik der Urteilskraft auf das Lehrstück der transzendentalen Grundsätze der Vernunft bzw. des hypothetischen Vernunftgebrauchs zurückzugreifen (KU AA 5: 179), wiewohl deren Funktion weiterentwickelt wird (McLaughlin 2014, pp. 554–572; Ginsborg 1990, pp. 174–192; Seide 2013, pp. 84–89; Dörflinger 2000, pp. 7–26).

[51] Siehe dazu auch Massimi (2017, pp. 63–84).

[52] Für die Relevanz dieser kantischen Position im Kontext aktueller wissenschaftstheoretischer Debatten siehe Briesen (2013, pp. 1–32); Majer (1993, pp. 51–77); Nuzzo (1995, pp. 88–102); Orth (2011, pp. 157–164).