Heuristisch legitimierte Grundsätze der Vernunft und
ideell interpretierte Vernunftideen. Zur Funktion der
wissenschaftstheoretischen Beispiele des ersten Teils des Anhangs zur
Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft
Heuristically Legitimized Principles and Ideationally
Interpreted Ideas of Reason. The Function of the Examples of the First Part of
the Appendix to the Transcendental Dialectic
RUDOLF MEER·
Immanuel Kant Baltic Federal University, Russia
University of Graz, Austria
Zusammenfassung
Im
ersten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik entwickelt Kant
einen Übergang zwischen dem logischen Gebrauch der Vernunft und den
transzendentalen Prinzipien der Vernunft (Homogenität, Spezifikation,
Kontinuität). Basierend auf methodologischen Überlegungen zur Chemie, zur
physiologischen Anthropologie und zur Entwicklungsgeschichte astronomischer
Grundannahmen versucht Kant, diese Prinzipien in ihrem transzendentalen Status
zu rechtfertigen und ihre Kompatibilität mit anderen Teilen der Kritik der
reinen Vernunft nachzuweisen. Ausgehend von diesen
wissenschaftstheoretischen Beispielen wird für eine heuristisch-pragmatische
Rechtfertigung der transzendentalen Prinzipien der Vernunft und eine ideelle
Funktion der durch diese Prinzipien gewonnenen Ideen argumentiert. Dabei lässt
sich die enge Verbindung zwischen den transzendentalen Prinzipien des ersten
Teils des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik und Kants Konzept der
rationalen Naturwissenschaft in den Metaphysischen Anfangsgründen der
Naturwissenschaft nachweisen.
Schlüsselbegriffe
Grundsatz
der Vernunft, Anhang zur Transzendentalen Dialektik, eigentliche und
rationale Naturwissenschaft
Abstract
In
the framework of the first part of the Appendix to Transcendental Dialectic,
Kant develops a transition between the logical use of reason and the
transcendental principles of reason (homogeneity, specification, continuity).
With regard to methodological reflections on chemistry, physiological
anthropology, and the historical development of underlying assumptions in
astronomy, Kant attempts to justify these principles and to demonstrate their
compatibility with other parts of the Critique of Pure Reason. Based on
these scientific examples, the paper argues for a heuristic-pragmatic
justification of the transcendental principles of reason and an ideational
function of the ideas which are gained through these principles. In doing
so, the close link between the transcendental principles of the first part of
the Appendix to the Transcendental Dialectic and Kant’s concept of rational
natural science in the Metaphysical Foundations of Natural Science
can be demonstrated.
Keywords
principle
of reason; Transcendental Dialectic; proper and rational natural science
Es gibt nur wenige Textpassagen der Kritik der reinen Vernunft, in denen
sich Kant so direkt auf konkrete Beispiele der Naturforschung seiner Zeit
bezieht wie im ersten Teil des Anhangs
zur Transzendentalen Dialektik[1] und den
darin thematisierten transzendentalen Grundsätzen der Vernunft[2]. Die zentrale Schwierigkeit dieses
Lehrstücks findet sich in der Demonstration des Übergangs vom bloß logischen
Vernunftgebrauch zum transzendentalen und den daran anschließenden Fragen der
Legitimität dieser Grundsätze sowie der Kompatibilität mit anderen Theorieelementen
der ersten Kritik. Verteilt über die gesamte Transzendentale Dialektik finden sich drei verschiedene
Argumentationsstrategien, um diesen Übergang zu rechtfertigen, die sich erstens
als metaphysisch-ontologische[3], zweitens als epistemologisch-methodische[4] und
drittens als heuristisch-pragmatische[5] differenzieren lassen.[6] Über
die Gewichtung und das Potential der jeweiligen Argumente herrscht jedoch in
der Forschung Uneinigkeit und auch Kant selbst räumt an mehreren Stellen der Transzendentalen
Dialektik (A 308/B 365; A 650/B679; A 664/B 692),
aber insbesondere in § 60 der Prolegomena mit direktem Bezug auf den ersten Teil des Anhangs zur
Transzendentalen Dialektik (Prol
AA 4: 364), ein, dass die Frage, wie es zu verstehen sei, dass „auch
Erfahrung mittelbar unter der Gesetzgebung der Vernunft stehe“ (Prol AA 4:
364), eine noch zu lösende Aufgabe (Prol AA 4: 362) bilde.
Basierend auf der rudimentären Entwicklung dieses
Lehrstücks kommt den wissenschaftstheoretischen Beispielen des ersten Teils des
Anhangs zur Transzendentalen Dialektik
eine besonders zentrale Bedeutung zu.[7] Durch sie lassen sich die
transzendentalen Grundsätze der Vernunft in einer viel schwächeren Form als im
Rahmen der metaphysisch-ontologischen
und epistemologisch-methodischen
Argumentationsstrategien,
aber doch in ausreichendem Maße als heuristisch-pragmatisch legitimieren. Um dies nachzuweisen, werden
Kants Verweise auf die Chemie, die physiologische Anthropologie und die
Entwicklungsgeschichte astronomischer Grundannahmen als
Argumentationsstrategien rekonstruiert, anhand deren er den Übergang von den
bloß logischen zu den transzendentalen Grundsätzen der Vernunft – wenn auch
nicht rein argumentativ, so aber doch pragmatisch und praktisch – plausibel zu
machen versucht.
Über den Anhang zur Transzendentalen
Dialektik hinaus hat der transzendentale Grundsatz der Vernunft sowie die durch ihn erschlossenen Ideen aber auch eine Relevanz für die in der
Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft entwickelte
Klassifizierung der Naturlehre. Dabei
ist der Zusammenhang zwischen diesen beiden Textpassagen und die Gewichtung
bzw. die spezifische Funktion des Grundsatzes der Vernunft umstritten.
Schematisch lassen sich drei in der Forschung diskutierte Interpretationen,
d. h. eine kategorische[8], eine systematische[9] und
eine ideelle[10],
unterscheiden. Basierend auf der konkreten wissenschaftshistorischen Analyse
der Beispiele des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik kann gezeigt
werden, dass sich rationale Naturwissenschaft, das heißt „ein nach
Principien geordnetes Ganze[s]“ (MAdN AA 4: 467), durch den
transzendentalen Grundsatz der Vernunft und das durch ihn geleistete
„Systematische der Erkenntnis, d. i. der Zusammenhang derselben aus einem
Prinzip“ (A 645/B 673), bestimmt. Diese Klassifizierung ist daher
nicht auf die Tafel der Kategorien bzw. die Grundsätze des Verstandes
reduzierbar, sondern weist eine eigene Dignität auf. Zudem wird über den bloßen
Zusammenhang von Begriffen in einer Hierarchie von wissenschaftlichen Urteilen
eine Idee als Unbedingtes erschlossen, die in Form eines Als-Ob den
systematischen Rahmen einzelner Disziplinen schafft. Folglich bildet die
Klassifikation einer rationalen Naturwissenschaft im Sinne der ideellen Interpretation eine
legitimierte Gesetzmäßigkeit, die unabhängig von den Grundsätzen des Verstandes
ist und über die bloße Hierarchie von Begriffen hinausgeht.
Ziel der Untersuchung ist eine Analyse der Struktur
des transzendentalen Grundsatzes der Vernunft im Rahmen der Transzendentalen
Dialektik und seiner Funktion in Kants Klassifikation der Naturlehre der Metaphysischen
Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Dabei wird für eine heuristisch-pragmatische Legitimation
der transzendentalen Grundsätze der Vernunft sowie für eine ideelle Funktion der durch sie
erschlossenen Vernunftideen argumentiert. Anhand konkreter historischer
Analysen der Beispiele des ersten Teils des Anhangs
zur Transzendentalen Dialektik kann
der Zusammenhang zwischen diesen beiden Lehrstücken aufgewiesen und vereinzelte
Theorieansätze der Forschung diskutiert und zusammengeführt werden.
1 Der transzendentale Grundsatz der Vernunft
als Bedingung rationaler Naturwissenschaft
1.1
Naturforschung und Vernunfteinheit
Kants Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft im Anhang zur Transzendentalen Dialektik ist
von einer doppelten Bezugnahme geprägt: Erstens rekurriert Kant darin auf Grundsätze der Philosophen und entlehnt
damit bekannte, wenn auch in ihrer
Reichweite nicht immer erkannte
Prinzipien der Forschung. „Wir finden diese transscendentale Voraussetzung [der
„systematischen Einheit der Natur“] auch auf eine bewundernswürdige Weise in
den Grundsätzen der Philosophen versteckt, wiewohl sie solche darin [in der
Natur] nicht immer erkannt, oder sich selbst [zu]gestanden haben.“
(A 651/B 679) Demnach bilde diese Voraussetzung
eine Schulregel oder logisches Princip, ohne welches
kein Gebrauch der Vernunft stattfände, weil wir nur so fern vom Allgemeinen
aufs Besondere schließen können, als allgemeine Eigenschaften der Dinge zum
Grunde gelegt werden, unter denen die besonderen stehen. Daß aber auch in der
Natur eine solche Einhelligkeit angetroffen werde, setzen die Philosophen in
der bekannten Schulregel voraus: daß man die Anfänge (Principien) nicht ohne
Noth vervielfältigen müsse (entia praeter necessitatem non esse multiplicanda).
Dadurch wird gesagt, daß die Natur der Dinge selbst zur Vernunfteinheit Stoff
darbiete (A 652/B 680).
Trotz des spezifischen Status der Vernunftbegriffe[11] im
Rahmen der Kritik der reinen Vernunft
entwickelt Kant diese im Rückgriff und in Auseinandersetzung mit der
philosophischen Tradition des 18. Jahrhunderts. Dabei findet er vor allem
in den naturphilosophischen Konzepten Anleihen dafür, diese Begriffe nicht bloß
als logische bzw. ökonomische Prinzipien zu konzipieren, sondern als solche,
die auch in der „Natur der Dinge“ (A 652/B 680) selbst verankert
sind.
Zweitens ist die Naturphilosophie aber nicht nur
Ausgangspunkt, sondern auch Untersuchungsgegenstand von Kants kritischen
Überlegungen. Eine transzendentallogische Fassung der Vernunftbegriffe und eine
Spezifizierung als regulative Prinzipien ermöglichen eine Klärung konkreter
naturwissenschaftlicher Problemstellungen:
Ein solches Princip [der zweckmäßigen Einheit der
Dinge] eröffnet nämlich unserer auf das Feld der Erfahrungen angewandten
Vernunft ganz neue Aussichten, nach teleologischen Gesetzen die Dinge der Welt
zu verknüpfen und dadurch zu der größten systematischen Einheit derselben zu
gelangen. (A 686f./B 714f.)
Diese „ganz neue[n] Aussichten“
(A 687/B 715) auf das „Feld der Erfahrungen“ (A 687/B 715)
erprobt Kant im Rahmen des ersten Teils des Anhangs
zur Transzendentalen Dialektik ausgehend von der Chemie
(A 653f./B 680f.; A 646/B 674), der physiologischen
Anthropologie (A 668/B 696) und der Entwicklungsgeschichte
astronomischer Grundannahmen (A 662f./B 690f.).[12] All diesen Überlegungen
liegt eine spezifische Gesetzmäßigkeit zugrunde, die durch die transzendentalen
Grundsätze der Vernunft sowie die dadurch erschlossenen Vernunftideen legitimiert
ist.[13]
Während in den Metaphysischen
Anfangsgründen der Naturwissenschaft ausgehend von den Grundsätzen des
Verstandes der Übergang zu den metaphysischen Anfangsgründen der rationalen
Physik im Vordergrund steht, rücken im Anhang zur Transzendentalen Dialektik Disziplinen in den Fokus, denen kein
solcher Status zukommt, die aber doch einer spezifischen Gesetzmäßigkeit
folgen.
1.2 Der Status des Grundsatzes der Vernunft
Bereits in der Einleitung zur Transzendentalen Dialektik der Kritik
der reinen Vernunft formuliert Kant anhand zweier Ob-Fragen eine die
gesamte Dialektik betreffende Problemstellung ausgehend vom Grundsatz der
Vernunft: „Mit einem Wort, die Frage ist: ob die Vernunft an sich selbst,
d. i. die reine Vernunft a priori synthetische Grundsätze und Regeln
enthalte, und worin diese Prinzipien bestehen mögen?“ (A 306/B 363)
Kant beantwortet diese erste Ob-Frage mit einem Ja, unterscheidet aber die aus
diesem „obersten Princip der reinen Vernunft entspringende[n] Grundsätze“ (A 308/B 365),
die „in Ansehung aller Erscheinungen transcendent“ (A 308/B 365)
sind, von den „Grundsätzen des Verstandes (deren Gebrauch völlig immanent ist,
indem sie nur die Möglichkeit der Erfahrung zu ihrem Thema haben)“
(A 308/B 365; A 664/B 692).[14]
Zweitens stellt Kant die Frage, ob „jener Grundsatz
[der Vernunft], daß sich die Reihe der Bedingungen (in der Synthesis der
Erscheinungen, oder auch des Denkens der Dinge überhaupt) bis zum Unbedingten
erstrecke, seine objective Richtigkeit habe oder nicht“ (A 308/B 365).
Dies impliziert die Frage, ob es sich beim Grundsatz der Vernunft um eine
„logische Vorschrift“ (A 309/B 365)[15] oder einen
„objectivgültigen Vernunftsatz“ (A 309/B 365; A 648/B 676)[16]
handelt. Kant beantwortet auch diese zweite Ob-Frage mit einem Ja. Dem „ökonomischen
Grundsatz der Vernunft“ (A 649/B 677), der ein Grundsatz in der
„Ersparung der Prinzipien“ (A 649/B 677) ist, entspreche folglich ein
„inneres Gesetz der Natur“ (A 649/B 677).
Ausgehend von der hier postulierten positiven Antwort
auf beide Fragen thematisiert Kant im Anhang zur Transzendentalen Dialektik
(A 663f./B 691f.; A 670/B 698, siehe auch
A 307f./B 364) explizit den Übergang bzw. das Spannungsverhältnis vom
logischen zum transzendentalen Vernunftgebrauch. Durch die Beispiele kann er
dabei – in pragmatischer Weise und praktisch fundiert, d. h. basierend auf
dem tatsächlichen wissenschaftstheoretischen Umgang mit empirischen Stoffen und
ihrer Klassifizierung – zweierlei Vorwürfe zurückzuweisen: erstens, dass der
Vernunftgebrauch in seinem legitimen regulativen Verständnis auf die logische
und subjektive Ordnung von Begriffen reduziert sei und daher ausschließlich ein
Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrat
unseres Verstandes bilde.[17] Der
zweite Vorwurf besteht darin, dass der regulative Vernunftgebrauch
metaphysische Begriffskonstruktionen ermögliche und damit die in kritischer
Weise gezogenen Grenzlinien der ersten Kritik aufbreche.[18] Die konkreten
naturwissenschaftliche Bezüge zeigen entgegen beider Vorwürfe, wie ausgehend
vom Grundsatz der Vernunft die Vernunftprinzipien und ‑ideen „objektive, aber
unbestimmte Gültigkeit“ (A 637/B 691) erlangen können bzw. wie „das
Prinzip einer solchen systematischen Einheit auf unbestimmte Art (principium
vagum) […] auch objektiv“ (A 680/B 708) sein kann. Sie legitimieren
damit eine Mittelstellung zwischen diesen beiden Einwänden, nach welcher der
transzendentale Grundsatz der Vernunft nicht bloß logisch, aber auch nicht
transzendent aufgefasst wird.
1.3
Rationale Naturwissenschaft
Besondere Relevanz bekommt der Grundsatz der Vernunft
in seinem transzendentalen Gebrauch und die durch ihn erschlossenen Ideen mit
Blick auf Kants Klassifikation der Naturlehre
in den Metaphysischen Anfangsgründen der
Naturwissenschaft[19].
Naturwissenschaft bildet für Kant einen Spezialfall von Wissenschaft, dessen
Gegenstand eine Natur besitzt und
damit abgegrenzt ist von anderen Disziplinen wie der Logik, der Mathematik oder
auch der Transzendentalphilosophie. Naturwissenschaft wiederum zerfalle gemäß
„der Hauptverschiedenheit unserer Sinne“ (MAdN AA 4: 467), d. i. des
äußeren und des inneren, in eine „Körperlehre oder Seelenlehre“ (MAdN
AA 4: 468).[20] Natur
wiederum bestimmt Kant anhand von zwei sich ergänzenden Aspekten: Erstens sei
die Natur formal betrachtet der „Zusammenhang der Bestimmungen“
(A 419/B 446) eines Dings bzw. als das Dasein der Dinge nach
allgemeinen Gesetzen bestimmt (Prol AA 4: 294; MAdN AA 4: 467).
Zweitens sei Natur materiell betrachtet der Inbegriff aller Vorstellungen bzw.
empirischen Gegenstände (A 419/B 446; Prol AA 4: 296; MAdN AA 4:
467). Eine Wissenschaft bilde ein „nach Principien geordnetes Ganzes der
Erkenntniß“ (MAdN AA 4: 467; A 647/B 675;
A 842f./B 870f.) und sei in diesem Sinne vom bloßen Aggregat zu
unterscheiden. Folgen diese Prinzipien Grundsätzen der empirischen Verknüpfung,
d. h. beziehen sie sich nur auf aposteriorische „Facta der Naturdinge“
(MAdN AA 4: 468; DP AA 29: 99), ergebe dies eine „historische Naturlehre“ (MAdN
AA 4: 468). Diese bestehe sowohl aus Naturbeschreibungen als auch aus
Naturgeschichte, in der „systematisch geordnete Facta der Naturdinge“ (MAdN
AA 4: 468) wiedergegeben werden. Folgen diese Prinzipien Grundsätzen der
rationalen Verknüpfung, dann ergebe dies eine „rationale Naturwissenschaft“
(MAdN AA 4: 468). Eine solche rationale Naturwissenschaft könne wiederum
„eigentlich, oder uneigentlich so genannte Naturwissenschaft sein“ (MAdN
AA 4: 468). Unter einer eigentlichen,
rationalen Naturwissenschaft sei eine Lehre zu verstehen, in welcher der
Untersuchungsgegenstand „gänzlich nach Principien a priori“ (MAdN
AA 4: 468) behandelt wird und deren „Gewißheit apodiktisch ist“ (MAdN
AA 4: 468). In einer uneigentlichen, rationalen Naturwissenschaft hingegen
werde der Untersuchungsgegenstand „nach Erfahrungsgesetzen behandelt“ (MAdN
AA 4: 468) und die Erkenntnis enthalte daher „blos empirische Gewißheit
[…], ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen“ (MAdN AA 4: 468; siehe
auch DP AA 29: 99).[21] Die
kantische Gliederung der Naturlehre lässt sich wie folgt wiedergeben:
Abbildung [erstellt vom Autor]
Systematische Erkenntnis und rationale Verknüpfung
sind dementsprechend sowohl in einer uneigentlichen als auch in einer
eigentlichen Naturwissenschaft Voraussetzung und machen diese erst zu einer rationalen Naturwissenschaft. Der
Unterschied liegt darin, dass in erster der Zusammenhang von Gründen und Folgen
bloß empirisch, in zweiter nach Prinzipien a priori legitimiert ist. Die
Grundsätze des Verstandes bilden demnach jenen reinen Teil der Naturwissenschaft (MAdN AA 4: 473–477), der
diese zu einer eigentlichen Naturwissenschaft erhebt und damit auch die
Struktur der gesamten Abhandlung der Schrift von 1786 vorgibt. Dabei wird in
Form eines apodiktischen
Vernunftgebrauchs (A 645/B 673)
das Mannigfaltige in Raum und Zeit unter allgemeine Regeln subsumiert und der
Natur – in formaler Hinsicht, d. i. aufgrund der durch die Grundsätze des
Verstandes geleisteten Verknüpfung – ihre Gesetze vorgeschrieben (Prol AA 4:
320; B XVIf.).
Dem apodiktischen Vernunftgebrauch stellt Kant im Anhang zur Transzendentalen Dialektik
den hypothetischen gegenüber, durch den „das Systematische der Erkenntnis,
d. i. der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip“
(A 645/B 673) bzw. „ein nach Principien geordnetes Ganze[s] der
Erkenntnis“ (MAdN AA 4: 467) legitimiert werden soll. In diesem Sinne heißt es
in der Transzendentalen Methodenlehre:
„Ich verstehe aber unter einem
Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.“ (A 832/B 860) Dabei sei das Besondere gewiss –
allerdings das im apodiktischen Vernunftgebrauch vorausgesetzte Allgemeine nur
„problematisch angenommen“ (A 646/B 674). Für Kant bildet der hypothetische Vernunftgebrauch aber keine Kontradiktion zum
apodiktischen, sondern integriert vielmehr ein mehrstufiges Modell: In diesem werde in einem ersten Schritt ausgehend von
„mehreren besonderen Fälle[n], die insgesamt gewiss sind“ (A 646/B 674), und anhand des Prinzips der Homogenität auf eine
allgemeine Regel geschlossen. Das „Besondere ist gewiß, aber die Allgemeinheit
der Regel zu dieser Folge ein Problem“ (A 646/B 674). Beabsichtigt werde, über die Erfahrung hinaus „Einheit
in die besondere Erkenntnis zu bringen“ (A 647/B 675). Daran anknüpfend werde in einem zweiten Schritt,
ausgehend vom Prinzip der Spezifikation, von dieser erschlossenen allgemeinen
Regel wiederum auf die Fälle geschlossen. Dadurch können diese Einzelfälle von
ihrer allgemeinen Regel her geprüft und Zusammenhänge sichtbar gemacht werden.
Das Prinzip der Kontinuität setze dabei einen systematischen Zusammenhang
zwischen der allgemeinen Regel und ihren Fällen, wodurch, ausgehend von der
allgemeinen Regel, drittens auch auf jene Fälle, „die auch an sich nicht
gegeben sind“ (A 647/B 675), geschlossen werden könne. Kant entwickelt anhand der Grundsätze der Vernunft
damit eine reziproke Beziehung zwischen einer allgemeinen Regel und besonderen
Fällen. Das Unbedingte wird dabei als Vernunftidee problematisch aus der
Mannigfaltigkeit der Verstandeserkenntnis erschlossen, um für diese wiederum
einen „Probierstein der Wahrheit“ (A 647/B 675) zu bilden und damit
einen Beweisgrund ihrer Gesetzmäßigkeit.[22]
Die von Kant als uneigentliche Naturwissenschaften
bezeichneten Disziplinen basieren demnach auf dem Grundsatz der Vernunft und
die durch diesen Grundsatz erzeugten Vernunftideen. Die eigentlichen
Naturwissenschaften weisen über diese systematische Ordnung hinaus einen reinen
Teil auf, der durch die Grundsätze des Verstandes gewährleistet ist und durch
die apodiktische Gewissheit erreicht wird.
2 Chemie – Prinzipien und Elemente
Auf der Basis der Unterscheidung zwischen historischer
Naturlehre und rationaler Naturwissenschaft sowie der weiteren Differenzierung
in eine eigentliche und uneigentliche Naturwissenschaft kommt Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft
auf die Chemie zu sprechen. Darin heißt es: Wenn die Gründe oder Prinzipien,
wie z. B. in der Chemie, doch zuletzt blos
empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebene Facta durch die
Vernunft erklärt werden, blos Erfahrungsgesetze sind, so führen sie kein
Bewußtsein ihrer Nothwendigkeit bei sich (sind nicht apodiktisch=gewiß), und
alsdann verdient das Ganze in strengem Sinne nicht den Namen einer
Wissenschaft, und Chemie sollte daher eher systematische Kunst als Wissenschaft
heißen. (MAdN AA 4: 468)
Kant hat bei dieser Einordnung der Chemie die
Affinitätstheorien des 18. Jahrhunderts vor Augen.[23] Wie für Newton bildet die
Chemie für Kant eine Teil- oder Subdisziplin der Mechanik. Bei dieser sei „nach
der Idee des Mechanismus die chemische Wirkung der Materien unter einander zu
erklären“ (A 646/B 674; siehe
auch MAdN AA 4: 471). Die Chemie handelt folglich von den
Fliehkräften und der Gravitation zwischen kleinen Körpern.[24]
Basierend auf Newtons Überlegungen[25] veröffentlicht E. F.
Geoffroy 1718 seine Table des differents
rapports observés en Chimie entre differentes substances, die alle zu
Beginn des 18. Jahrhunderts synthetisierbaren Substanzen umfasst.[26]
Geoffroys Tabelle bildet damit den Ausgangspunkt für ein Jahrhundert der
chemischen Forschung, in der diese Tabellen auf der Basis empirischer Versuche
weiter spezifiziert werden. Einen Höhepunkt findet diese empirisch geleitete
Forschung in T. Bergmans Arbeit Disquisitio
de Attractionibus Electivis von 1775[27], die Kant in einer
Übersetzung bekannt war. Versucht die newtonsche Orthodoxie in Frankreich – die
sich in der Nachfolge von Geoffrey insbesondere um G.-L. L. Buffon
etabliert – die Affinitätsverhältnisse zwischen den Körpern experimentell zu
untersuchen und die Chemie als rein empirische Forschung zu etablieren, geht
E. Stahl davon aus, dass der chemische Körper ein intrinsisches Vermögen (Stahl
1720a, p. 38) bildet, das sich in der chemischen Reaktion offenbart,
weshalb nicht sämtliche Affinitäten empirisch nachweisbar sind. Die Phologistonchemie
Stahls bewahrt damit die Vorstellung von Urelementen wie Wasser, Erde, Luft und
Feuer, die als Prinzipien bzw. Elemente einfache, ungemischte Körper bilden und
als Träger von allgemeinen Eigenschaften (Stahl 1718, p. 73) fungieren.
Diese Konzeption entspricht wiederum genau Kants
Auffassung einer uneigentlichen Wissenschaft. Dabei ist der systematische
Rahmen in Form eines „nach Prinzipien geordnete[n] Ganze[n] der Erkenntnis“
(MAdN AA 4: 467) gegeben sowie ein rationaler Grund der Verknüpfung. Die Chemie
ist damit gegenüber bloß historischen Naturlehren als rationale Naturwissenschaft
zu kennzeichnen, die jeweiligen Verhältnisse der einzelnen Teile, d. i.
deren Affinitäten zueinander, sind allerdings nur empirisch erforschbar,
weshalb ihre Gesetze kein Bewusstsein der
Notwendigkeit bei sich führen. Wenn aber für die „chemischen Wirkungen der
Materien auf einander kein Begriff ausgefunden wird, der sich construiren läßt
[…], so kann Chemie nichts mehr als systematische Kunst oder Experimentallehre,
niemals aber eigentliche Wissenschaft werden“ (MAdN AA 4: 470f.).[28] Den
Status einer eigentlichen Wissenschaft könne die Chemie demnach nur bekommen,
wenn sich ein „Gesetz der Annäherung oder Entfernung der Theile angeben läßt,
nach welchem etwa in Proportion ihrer Dichtigkeiten u.d.g. ihre Bewegungen
sammt ihren Folgen sich im Raume a priori anschaulich machen und
darstellen lassen“ (MAdN AA 4: 471).[29]
2.2 Wissenschaftshistorische Bezüge des Anhangs
Obwohl Stahl in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft nicht
namentlich genannt wird, bildet er neben der Kritik der reinen Vernunft auch in diesem Text den zentralen
Bezugspunkt für Kants Überlegungen zur Chemie. Dies wird besonders deutlich,
wenn die Ausführungen der Schrift von 1786 in Zusammenhang mit jenen der Danziger-Physik-Nachschrift von 1785 und
dem darin zugrunde gelegten Kompendium Anleitung
zur gemeinnützlichen Kenntniß der Natur von W. J. G. Karsten
gestellt werden. Darin findet sich eine Vielzahl von Beispielen, welche die
Überlegungen zum Status der Chemie in den Metaphysischen
Anfangsgründen veranschaulichen und mit dem Chemiebeispiel aus dem Anhang zur Transzendentalen Dialektik
der Kritik der reinen Vernunft kompatibel
sind.
Kant rekonstruiert im Anhang zur Transzendentalen Dialektik die
Prinzipienchemie Stahls, wenn er wie folgt formuliert: Die Begriffe der reinen
Erde, des reinen Wassers, der reinen Luft etc. habe man nötig,
um den Antheil, den jede dieser Naturursachen an der
Erscheinung hat, gehörig zu bestimmen; und so bringt man alle Materien auf die
Erden (gleichsam die bloße Last), Salze und brennliche Wesen (als die Kraft),
endlich auf Wasser und Luft als Vehikeln (gleichsam Maschinen, vermittelst
deren die vorigen wirken), um nach der Idee eines Mechanismus die chemischen Wirkungen
der Materien unter einander zu erklären. (A 646/B 674)
Die Elemente werden demnach gebraucht, um den Anteil,
den jede dieser Naturursachen an den Erscheinungen hat, zu bemessen. Ziel sei
es, alle Materien auf die Erde, die Salze und brennliche Wesen (Phlogiston[30]) sowie
Wasser und Luft zu reduzieren[31], um
dadurch die chemische Wirkung der Materie untereinander nach dem Vorbild des
Mechanismus zu erklären.[32] Kant
wiederholt damit auch Stahls Differenzierung von Elementen und Instrumenten (Vehikeln): Elemente bilden in den Dingen
bzw. empirischen Gegenständen eigenschaftstragende Prinzipien. Instrumente
hingegen seien bloße Hilfsmittel in der Reaktion (Verbindung), gehen aber nicht
selbst in die Verbindung mit ein. Unüblich in der Rekonstruktion ist lediglich,
dass Kant Wasser nicht als Element, sondern als Instrument anführt. Typisch für
Stahl ist allerdings, dass die Luft als Instrument (Stahl 1720a, p. 48)
genannt wird.
An einer kurz darauffolgenden Stelle des Anhangs
zur Transzendentalen Dialektik entwickelt Kant die Prinzipienchemie und
ihre chemiehistorische Entwicklung weiter. Dort heißt es:
Es war schon viel, daß die Scheidekünstler alle Salze
auf zwei Hauptgattungen, saure und laugenhafte, zurückführen konnten, sie
versuchen sogar auch diesen Unterschied bloß als eine Varietät oder
verschiedene Äußerung eines und desselben Grundstoffs anzusehen. Die mancherlei
Arten von Erden (den Stoff der Steine und sogar der Metalle) hat man nach und
nach auf drei, endlich auf zwei zu bringen gesucht; allein damit noch nicht
zufrieden, können sie sich des Gedankens nicht entschlagen, hinter diesen
Varietäten dennoch eine einzige Gattung, ja wohl gar zu diesen und den Salzen
ein gemeinschaftliches Princip zu vermuthen (A 653f./B 680f.).
Mit der klassischen Differenzierung des Salzes in zwei
Hauptgattungen, d. h. Säuren und Laugen, rekurriert Kant, wie aus der Danziger Physik-Nachschrift (DP AA 29: 163) deutlich wird, direkt auf Stahl.
Aber auch hinsichtlich der Unterscheidung der Erde in die Stoffe Steine und Metalle
bildet Stahl den naturwissenschaftlichen Bezugspunkt. Diesem folgend ist Metall
eine Komposition aus Erde und Phlogiston, dabei wird letzteres bei der
Verkalkung abgegeben, wie Kant auch in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft erwähnt (B XIIf.). Aber auch in
seiner abfälligen Bemerkung, dass in der Chemie darüber hinaus noch eine
Einheit von Erden (Stein und Metall) und Salzen gesucht wurde, ist das
Verhältnis zu Stahl klar ersichtlich. Nach Stahl ist nämlich ein Salz eine
Verbindung von Erde und Wasser. Die Einteilung der Salze und Erden, so Kant,
ist durchaus legitim und wichtig, um systematische Einheit zu erzeugen. Diese
Klassifizierungen dürfen aber nicht zum Selbstzweck, sondern müssen in Bezug
auf ihre Varietät gebraucht werden, wie Kant mit Bezug auf die Praxis
chemischer Forschung, sich ständig mit noch grundlegenderen Elementen und
Prinzipien zu überflügeln, ausspricht.
2.3
Transformationen
In der Phlogistonchemie des 18. Jahrhunderts
herrscht konzeptuelle Unklarheit über den ontologischen Status der
grundlegenden Prinzipien, was sich an mehreren Stellen insbesondere bei Stahl
zeigt: „Ein principium oder Anfang wird so wohl a priori dasselbe genannt, das
es dasjenige sey, woraus eigentlich und am ersten dessen Wesen bestehet, als
auch a posteriori, worin zuletzt der vermischte Cörper wiederum resolviert
wird. Beide Beschreibungen sind wahr.“ (Stahl 1720a, p. 4) Stahl fasst die
Prinzipien demnach als apriorische Elemente, als Wesen oder als Substanzen auf.[33]
Gleichzeitig fordert er aber, dass diese a posteriori aufweisbar sein
müssen und damit Gegenstände der chemischen Analyse bilden.[34] Als solche wiederum sind
sie gewöhnliche Stoffe und empirisch identifizierbar.[35]
Kants regulativer Vernunftgebrach überwindet genau
diese Unstimmigkeit im ontologischen Status des Elementbegriffs und die damit
verbundenen Schwierigkeiten.[36] Die
transzendentalen Grundsätze der Vernunft leiten den Forscher bzw. die
Forscherin dabei an, von den gegebenen Fällen allgemeine Elemente zu
erschließen. Diese, verstanden als Vernunftideen, „werden nicht aus der Natur
geschöpft, vielmehr befragen wir die Natur nach diesen Ideen und halten unsere
Erkenntniß für mangelhaft, so lange sie denselben nicht adäquat ist.“
(A 645f./B 673f.) Kant fasst die Elemente folglich nicht als
empirische Gegenstände auf: „Man gesteht: daß sich schwerlich reine Erde,
reines Wasser, reine Luft etc. finde.“ (A 646/B 674) Sie haben
vielmehr, „was die völlige Reinigkeit betrifft, nur in der Vernunft ihren
Ursprung“ (A 646/B 674; DP AA 29: 162f.). Gleichzeitig werden sie
aber auch nicht als bloß abstrakte und okkulte Entitäten klassifiziert, womit
sich Kant von Stahls Fundierung der Elemente und Prinzipien in Form einer
Korpuskulartheorie (MAdN AA 4: 523–535) und dem Kampf gegen eine Kontinuitätstheorie
(MAdN AA 4: 503) abzusetzen weiß. Kant argumentiert in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft demnach gegen die
Annahme von absolut leeren Räumen und absolut harten Teilchen sowie die
Vorstellung, die Affinitäten von den Partikeln der Natur abzulesen. Die
Elemente, die den systematischen Rahmen der Chemie bilden, haben vielmehr
Gültigkeit, solange sie die Forschung produktiv anregen. D. h., solange im
Rahmen der Prinzipienchemie anhand des Umweges über diese eingebildeten
Gegenstände wie reines Wasser, reine Luft, reine Erde etc. produktive
Einsichten für die empirische Zusammensetzung der Stoffe generiert wird, wird
mit ihnen auch etwas über die Natur der Dinge ausgesagt und sie haben
demnach eine legitimierte transzendentale Gültigkeit und sind nicht bloß
Gesetze der Haushaltung. Die Elemente leisten in dieser regulativen Weise einen
positiven Beitrag in der Erforschung der Natur, wodurch ihnen auch einige
objektive Gültigkeit zukommt.
3
Physiologische Anthropologie – die Stufenleiter der Geschöpfe
Kant versteht unter Anthropologie „[e]ine Lehre von
der Kenntniß des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie)“ (AipH
AA 7: 119). Diese könne es „entweder in physiologischer oder in
pragmatischer Hinsicht“ (AipH AA 7: 119) geben: „Die physiologische
Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem
Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus
sich selber macht, oder machen kann und soll.“ (AipH AA 7: 119) In der physiologischen
Anthropologie sei demnach der „Charakter der Menschen“ (AipH AA 7: 321)
bzw. der „Mensch im System der lebenden Natur“ (AipH AA 7: 321)
thematisch.[37] Ziel
ist die Erklärung der psychischen Phänomene auf der Basis einer Theorie
physiologischer Bedingung.
Die Anthropologie
in pragmatischer Hinsicht bildet für Kant die zentrale Ausrichtung seiner
Anthropologie. Mit dieser setzt er sich spätestens seit den 1770er Jahren
sowohl gegen die empirische Psychologie der Wolff-Schule[38] als auch gegen die physiologische
Anthropologie E. Platners ab. Die kritische Distanznahme führt zu einer
paradoxen Situation: Kant akzeptiert und nutzt in seiner Anthropologie das psychologische Vermögensideom, stellt aber
gleichzeitig in den Metaphysischen
Anfangsgründen der Naturwissenschaft fest, dass die empirische Psychologie
niemals Naturwissenschaft werden kann (MAdN AA 4: 471).[39]
Gleichzeitig weist er das theoretische Vokabular der physiologischen
Anthropologie dezidiert zurück, behauptet aber nie, dass die physiologische Anthropologie
nicht Wissenschaft im Sinne der Metaphysischen
Anfangsgründe der Naturwissenschaft werden kann. Kants Ablehnung der
physiologischen Anthropologie basiert folglich nicht auf epistemologischen und
methodologischen Gründen, sondern ist für ihn in diesem Zusammenhang
schlichtweg irrelevant.[40] Wird
diese Marginalisierung aufgrund der zentralen Stellung der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zurückgestellt, lässt sich
mit der Klassifizierung der Metaphysischen
Anfangsgründe der Naturwissenschaft Folgendes feststellen: Die
physiologische Anthropologie bildet – im Gegensatz zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht – einen Gegenstand der
Körperlehre. Mit der Stufenleiter der Geschöpfe ist zudem ein systematischer
Rahmen und die Möglichkeit rationaler Verknüpfungen gegeben, mit dem die
physiologische Anthropologie erstens nicht bloß historische Naturlehre, sondern rationale
Naturwissenschaft ist. Zweitens fehlt
aber auf der Basis dieses nach einem Prinzip geordneten Ganzen – wie in den
Affinitätstheorien der Chemie – die Konstruierbarkeit der Verhältnisse der
einzelnen Teile untereinander, weshalb auch der physiologischen Anthropologie
der Status einer uneigentlichen Wissenschaft zugeschrieben werden kann.
3.2
Wissenschaftshistorische Bezüge des Anhangs
Bei manchem „Vernünftler“ (A 666/B 694), so
Kant im Anhang zur Transzendentalen
Dialektik, mag „mehr das Interesse der
Mannigfaltigkeit“ (A 666/B 694) vorherrschen, bei manchen anderen
„das Interesse der Einheit (nach dem Prinzip der Aggregation)“ (A 666/B 694).
Der Unterschied aber gründe lediglich auf einer „größeren oder kleineren
Anhänglichkeit an einen von beiden Grundsätzen“ (A 667/B 695) und
nicht „auf objektiven Gründen“ (A 667/B 695). Der Unterschied liege
folglich darin, was dieser oder jener sich stärker „zu Herzen nimmt, oder auch
affektiert“ (A 667/B 695) – bei dem einen stehe das Prinzip der
Spezifikation und bei dem anderen das Prinzip der Homogenität im Vordergrund:
Dies äußere sich vor allem an der sehr
verschiedenen Denkungsart der Naturforscher, deren
einige (die vorzüglich spekulativ sind), der Ungleichartigkeit gleichsam feind,
immer auf die Einheit der Gattung hinaussehen, die anderen (vorzüglich
empirische Köpfe) die Natur unaufhörlich in so viel Mannigfaltigkeit zu spalten
suchen, daß man beinahe die Hoffnung aufgeben müße, ihre Erscheinungen nach
allgemeinen Prinzipien zu beurteilen. (A 655/B 683)
Um die Gegenüberstellung dieser Denkungsarten zu
verdeutlichen, führt Kant ein Beispiel aus der physiologischen Anthropologie
an: Oft würden „einsehende Männer mit einander wegen der Charakteristik der
Menschen, der Thiere oder Pflanzen, ja selbst der Körper des Mineralreichs im
Streite“ (A 667/B 695) stehen. Jene empirischen Köpfe, die sich lediglich auf das Prinzip der
Spezifikation stützen, behaupten dabei, dass es besondere, auf die Abstammung
zurückführbare Volkscharaktere gebe sowie Unterschiede in den Familien und
Rassen. Jene spekulativen Köpfe, die
sich lediglich auf das Prinzip der Homogenität stützen, behaupten hingegen, die
Natur sei in diesen Dingen ganz gleich und die Unterschiede würden nur auf
Zufällen beruhen.[41]
Wird aber, so Kant, entgegen beiden Positionen die
besondere „Beschaffenheit des Gegenstandes“ (A 667/B 695) dieses
Disputs in Betracht gezogen, so wird leicht begreiflich, dass er für beide
„viel zu tief verborgen liege, als daß [sie] aus Einsicht in die Natur des
Objektes sprechen“ (A 667/B 695) könnten. Das heißt, nicht die
jeweilige Ausrichtung der spekulativen oder empirischen Köpfe ist das Problem,
vielmehr ist es ein falsches Konzept empirischer Gegenstände und der Anspruch,
der damit verbunden ist. Dieser falsche Gebrauch aber werde nicht nur
„Hindernisse veranlassen“ (A 667/B 695), sondern „die Wahrheit lange
aufhalten, bis ein Mittel gefunden wird, das streitige Interesse zu vereinigen
und die Vernunft hierüber zufrieden zu stellen“ (A 667/B 695).
Ausgehend von diesem Widerspruch der Naturforscher
bringt Kant das Kontinuitätsprinzip mit der Stufenleiter der Geschöpfe von
G. W. Leibniz und Ch. Bonnet in Zusammenhang, wenn er
formuliert: Genauso wie die Verschiedenheit der Vernunftprinzipien Homogenität
und Spezifikation, die, wenn sie für objektive Einsichten gehalten werden,
nicht nur zu Streit führen, sondern gleichzeitig die Wahrheit verhindern, sei
es mit der „Behauptung oder Anfechtung des so berufenen, von Leibniz in Gang
gebrachten und durch Bonnet trefflich aufgestutzten Gesetzes der
continuirlichen Stufenleiter der Geschöpfe bewandt“ (A 668/B 696).
Kant rekurriert demnach in der Konzeption des Prinzips der Kontinuität als
vermittelnde Instanz zwischen Homogenität und Spezifikation auf die
philosophiehistorische Linie Leibniz-Bonnet, um mögliche Hindernisse, die durch
einen falschen Gebrauch davon entstehen, in Lösungen zu verwandeln.
Für Leibniz bildet das Kontinuitätsprinzip der Natur
ein Weltgesetz und es reicht damit
über die erfahrbare Stufenordnung der Geschöpfe hinaus. Es garantiert einen Übergang zwischen den Lebensformen,
wenn es u. a. heißt: „[I]l est nécessaire, que tous les ordres des Êtres
naturels ne forment qu’une seule châine, dans laquelle les différentes classes,
comme autant d’anneaux, tiennent […] étroitement les unes aux autres“ (Leibniz
1906, p. 558). Der
vorkritische Kant folgt Leibniz in diesem Aspekt[42], wenn er aufgrund der Annahme
einer „ewigen Harmonie, die alle Glieder aufeinander beziehend macht“ (NTH
AA 1: 365), alles in der Natur in „einer ununterbrochenen Gradfolge“ (NTH
AA 1: 365; BüO AA 2: 29ff.) sieht. Der Mensch wiederum bilde dabei
einen „gewissen Mittelstand zwischen der Weisheit und Unvernunft“ (NTH
AA 1: 365).
Aber auch Bonnet ist in verschiedenster Hinsicht
maßgeblich durch die Philosophie Leibnizens beeinflusst und versucht, sie mit
jener Spinozas zusammenzuführen (Cheung 2005, pp. 42f.; Cheung 2008,
pp. 213–230). Wie aus einem Brief an A. v. Haller vom 8. Mai
1777 bekannt ist, hat Bonnet im Winter 1748 Leibniz’ Théodicée und 1765 die Nouveaux
Essais gelesen (Cheung 2005, p. 25) und auf der Basis dieses Studiums
den kontinuierlichen Zusammenhang der Wesen u. a. wie folgt erläutert:
Im Universum ist […] alles verbunden; alles steht in
ihm in Beziehung; alles trägt zum gleichen Ziel bei. Bis zum geringsten Atom
der physischen Welt und bis zur geringsten Idee der verstandesmäßigen Welt gibt
es nichts, was nicht seine Verbindung mit dem ganzen System hätte. (Bonnet
1769, p. 356; Bonnet 1755, Kap. 56)
Jedes Individuum ist dabei durch die besondere
Organisation seines organischen Körpers und durch das allgemeine System doppelt
bestimmt. Durch diese doppelte Bestimmung entsteht eine Stufenleiter mit
zunehmender Komplexität, die von den Elementen zu den Pflanzen und Tieren über
die Menschen bis zur Welt im Ganzen reicht (Cheung 2005, p. 33). Es
herrscht darin eine Korrelation zwischen dem Komplexitätsgrad der zusammengesetzten
Individuen und ihrer Vollkommenheit. Bereits 1745 hat Bonnet in seiner Studie
über die Parthenogenese bei Blattläusen eine solche Stufenleiter der Wesen
(Bonnet 1745, p. XXVIII ) angefügt.
Trotz dieser Bezugnahmen auf Leibniz und Bonnet
bedeutet für Kant die Kritik der reinen
Vernunft eine gänzliche Abkehr von dieser Welt- und Naturmetaphysik. Der
zuvor noch in einer ewigen Harmonie gedachten Natur wird nun der Platz
eingeräumt, sich selbst in ihren besonderen Formen und Gesetzlichkeiten zu
spezifizieren. Es wird ihr Platz geschaffen, indem die auf Abstammung
gegründeten Unterschiede und Zusammenhänge für unser Erkenntnisvermögen als
„viel zu tief verborgen“ (A 667/B 695) erkannt werden, sodass sie
nicht die „Existenz der Dinge unter Gesetzen“ (Prol AA 4: 294; KpV
AA 5: 43) – die durch die Grundsätze des Verstandes bestimmt sind –
betreffen.
3.3
Transformationen
Noch vor der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft weist Kant in der Rezension Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte
der Menschen (1785) das Prinzip der kontinuierlichen Gradation der
Geschöpfe und die Idee eines gemeinsamen Ursprungs als inakzeptabel zurück
(RezHerder AA 8: 53): Die Verwandtschaft der Gattungen, nach der „alle aus
einer einzigen Originalgattung oder etwa aus einem einzigen erzeugenden
Mutterschooße entsprungen wären, würde auf Ideen führen, die aber so ungeheuer
sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt“ (RezHerder AA 8: 54). Während
Bonnet in der vorkritischen Periode des kantischen Denkens keine systematische
Rolle spielt[43], weist
Kant 1788 im Gebrauch der teleologischen
Prinzipien in der Philosophie, der eine Antwort auf die Kritik
J. G. A. Försters darstellt, in einer Fußnote konkret auf ihn hin:
Dabei macht er die „vornehmlich durch Bonnet sehr beliebt gewordene Idee“
(ÜGTP AA 8: 181) der „Verwandtschaft Aller in einer unmerklichen
Abstufung vom Menschen zum Wahllfische und so weiter hinab“ (ÜGTP AA 8:
181) verantwortlich für Försters Behauptung, dass alle Naturbildungen,
organische wie anorganische, aus der kreißenden
Erde in allen ihren Varietäten hervorgegangen seien. Gegen solche „Ideen
verdient des Hrn. Prof. Blumenbach Erinnerung (Handbuch der Naturgeschichte
1779. Vorrede § 7) gelesen zu werden“ (ÜGTP AA 8: 180)[44].
Kant bezieht sich demnach sowohl auf Leibnizens
Konzept einer wesenhaft bzw. ontologisch aufgefassten kontinuierlichen
Stufenleiter der Geschöpfe als auch auf Bonnets heuristisch interpretierte. Er
refüsiert aber beide Konzepte aufgrund ihres konstitutiven Gebrauchs und
verweist auf Lücken in der postulierten Kontinuität.[45] Kant hebt damit die
Konzeption der Stufenleiter der Geschöpfe aus einer vorkritisch-ontologischen
Rahmung. In diesem Sinne heißt es: Die Vernunft kann die Natur nur mit den
transzendentalen Prinzipien befragen und daraus Vernunftideen entwickeln, aber
nicht aus ihr entnehmen, gleichwohl sie diesen zu entsprechen habe
(A 646/B 674.; A 650f./B 678f.; B XII.). Die Sprossen
einer solchen durch den hypothetischen Vernunftgebrauch gewonnenen Leiter
stünden nämlich „viel zu weit aus einander“ (A 668/B 696), sodass
„unsere vermeintlich kleine[n] Unterschiede“ (A 668/B 696) in der
„Natur selbst […] weite Klüfte“ (A 668/B 696) bilden. Aus diesem
Grund seien auf der Basis solcher Erfahrung nicht die „Absichten der Natur“
(A 668/B 696) zu erschließen.
Die kontinuierliche Stufenleiter der Geschöpfe ist
nach Kant demnach „nichts als eine Befolgung des auf dem Interesse der Vernunft
beruhenden Grundsatzes der Affinität“ (A 668/B 696), sie ist ein
heuristisches Prinzip, mit dessen Hilfe allerdings die Einheit der Natur
regulativ begriffen wird. Als solches soll sie die Suche nach Übergängen und
Zwischengliedern beleben, aber die grundsätzliche Möglichkeit von Lücken
offenhalten. Diese heuristisch-pragmatische Argumentation vereint damit sowohl eine
Kontinuitätstheorie als auch – unter Verweis auf die Verborgenheit dieser für
die menschliche Erkenntnis – Lücken und Klüfte. Mit der Stufenleiter der
Geschöpfe ist in der physiologischen Anthropologie ein „System, d. i. ein
nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis, gegeben“ (MAdN AA 4:
467), das als regulative Idee dazu auffordert, in empirischer Forschung den
Zusammenhang der Geschöpfe zu untersuchen.
4
Entwicklungsgeschichte astronomischer Grundannahmen
4.1
Status
Nach Kant bilden die im Weltall beobachtbaren Gestirne
und Himmelskörper die Forschungsgegenstände der Astronomie. Diese untersucht
die Umlaufbahnen der Planeten um die Sonne und deren spezifische Eigenschaften.
Als solche bildet die Astronomie neben der Mechanik, Dioptrik, Hydrostatik,
Hydraulik, Katoptrik etc. eine Teildisziplin der angewandten Mathematik bzw.
Physik. Methodisch gesehen werden dabei einzelne Beobachtungen mit
physikalischen Gesetzen wie der Gravitation verknüpft (Refl AA 16: 789).
Die Astronomie sei eine „empirische Wissenschaft“ (FM
AA 10: 259), da sie sowohl durch einen systematischen Rahmen apriorischer
Begriffe und Prinzipien gestützt sei als auch einen empirischen
Forschungsgegenstand habe. Die Grundlage dieser Disziplinen liege folglich in
dem „Gesetz der wechselseitigen Attraction“ (Prol AA 4: 321), mit dem sie die
Planetenbewegungen beschreibe. Gleichzeitig enthalte die Astronomie aber auch
einen empirischen Teil, weshalb Kant feststellt, dass sie u. a. vom
technischen Fortschritt des Teleskops (NTH AA 2: 252f.) abhängig ist.
Die Astronomie habe damit neben einer angewandten
Vernunfterkenntnis auch einen „reinen Teil, auf dem sich die apodiktische
Gewißheit“ (MAdN AA 4: 469) aller übrigen Naturerklärungen gründe: Sie
bilde daher im Gegensatz zur Chemie (MAdN AA 4: 468) noch mehr im Gegensatz zur
empirischen Psychologie (MAdN AA 4: 471) eine sogenannte eigentliche
Naturwissenschaft.
In § 38 der Prolegomena und der darin beantworteten
Frage: Wie ist reine Naturwissenschaft
möglich?, weist Kant diesen reinen Teil der Astronomie, der sie über die
uneigentliche Naturwissenschaft als eigentliche etabliert, explizit nach. Dabei
deckt er den Zusammenhang zwischen der Konstruktion von Kreisen, Ellipsen,
Parabeln sowie Hyperbeln und der physischen Astronomie auf.[46] In dieser Weise führt Kant
den Ursprung aller Ordnung in der Natur im Rahmen der Astronomie auf die
Geometrie und damit den Verstand zurück, welcher der Grund der Einheit aller
Konstruktionshandlungen ist.
Zeichnet die Geometrie des Kegels in § 38 die
Astronomie als eigentliche Wissenschaft aus, so ist es die in gleicher Weise
angewandte Mathematik, durch die im Anhang zur Transzendentalen
Dialektik die Astronomie als
rationale Naturwissenschaft etabliert wird. Kant entwickelt demnach im
Anhang zur Transzendentalen Dialektik
das Beispiel aus der Astronomie erneut, allerdings unter völlig anderen
Vorzeichen: Ziel ist es nicht, den reinen
Teil der Astronomie zu explizieren und sie damit als eigentliche
Wissenschaft zu rekonstruieren, sondern die Einheit der vielfältigen astronomischen Erkenntnis sowie
deren Wandel anhand der zugrunde gelegten Prinzipien zu verdeutlichen und damit
ihren Satus als sie „rationale
Naturwissenschaft“ (MAdN AA 4: 468) aufzuweisen. Ausgehend von diesen
Überlegungen entwickelt Kant ein reziprokes Verhältnis zwischen gegebenen
Fällen und allgemeinen Gesetzen, wodurch ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes
der Erkenntnis gewährleistet wird.
Als eigentliche Wissenschaft unterscheidet sich die
Astronomie von den sogenannten uneigentlichen Wissenschaften, da in ihr,
basierend auf den Grundsätzen des Verstandes, eine Konstruierbarkeit der
Verhältnisse ihrer Teile möglich ist. Gleichzeitig bildet die Astronomie als
eigentliche Wissenschaft eine Teilmenge der rationalen Naturwissenschaft. Wie
den uneigentlichen Wissenschaften kommt ihr durch die anhand der
transzendentalen Grundsätze der Vernunft erschlossenen Ideen ein systematischer
Rahmen zu, der sie als rationale Naturwissenschaft legitimiert.
4.2
Wissenschaftshistorische Bezüge des Anhangs
Im Anhang zur Transzendentalen Dialektik kommt
Kant explizit auf die Entwicklungsgeschichte astronomischer Grundannahmen zu
sprechen, wenn es heißt:
Daher,
wenn uns z. B. durch eine (noch nicht völlig berichtigte) Erfahrung der
Lauf der Planeten als kreisförmig gegeben ist, und wir finden
Verschiedenheiten: so vermuthen wir sie in demjenigen, was den Cirkel nach
einem beständigen Gesetze durch alle unendliche Zwischengrade zu einem dieser
abweichenden Umläufe abändern kann, d. i. die Bewegungen der Planeten, die
nicht Cirkel sind, werden etwa dessen Eigenschaften mehr oder weniger nahe
kommen, und fallen auf die Ellipse. Die Kometen zeigen eine noch größere
Verschiedenheit ihrer Bahnen, da sie (soweit Beobachtung reicht) nicht einmal
im Kreise zurückkehren, allein wir rathen auf einen parabolischen Lauf, der
doch mit der Ellipsis verwandt ist und, wenn die lange Achse der letzteren sehr
weit gestreckt ist, in allen unseren Beobachtungen von ihr nicht unterschieden
werden kann. (A 662f./B 690f.)
Die Kreis-, Ellipsen-, Parabel- und Hyperbelbewegungen
der Planten bilden in der Astronomie eine systematische Einheit, auf die hin
jeweils einzelne Beobachtungen der Himmelskörper untersucht werden können.
Diese werden im Zuge des hypothetischen Vernunftgebrauchs gewonnen und bilden
demnach keinen archimedischen Punkt, sondern unterliegen selbst einem
historischen Wandel bzw. einer Entwicklung.[47]
Der Kegel bildet zwischen den von Kant dargestellten
Theorien der Bewegungen der Himmelskörper die verbindende geometrische Basis.
Der Kreis, die Ellipse, die Parabel wie auch die Hyperbel stammen dabei aus
differenten Schnitten dieses geometrischen Körpers: Wird der Kegel vermittelst
einer Ebene, die parallel zur Grundfläche verläuft, geschnitten, dann handelt
es sich um einen Kreis. Wird hingegen der Einfallswinkel im Kegelschnitt
verändert, führt dies zur Ellipse, zur Parabel und zur Hyperbel. Alle vier
Kurven stehen somit in einem kontinuierlichen Verhältnis zueinander und können
durch eine kontinuierliche Deformation gewonnen werden. Diese Kontinuität
zwischen den Kurven ist wiederum die Voraussetzung für eine Theorie des
kontinuierlichen Fortschritts in der Geschichte der astronomischen
Grundannahmen, wie sie Kant schildert.
Eine naive, unvollständige und „noch nicht völlig berichtigte“
(A 662/B 690) Erfahrung lehre, dass Planeten sich kreisförmig bewegen. Dabei
handelt es sich um eine Auffassung, die über die Schule der Pythagoreer,
Ptolemaios bis hin zu Kopernikus Geltung hatte – sie überdauerte sogar den
Wandel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild. Finden sich aber
Unstimmigkeiten in der Beobachtung der Kreisbewegung, werde dem Gesetz der
Verwandtschaft nach vermutet, dass sich die Planeten nicht in Form von Kreisen,
sondern in Form von Ellipsen bewegen. Der Grund sei darin zu sehen, dass die
Ellipse den Eigenschaften des Zirkels „mehr oder weniger nahe komme“
(A 662/B 690) und der Zirkel durch „unendliche Zwischengrade“
(A 662/B 690), d. h. einen kontinuierlichen Übergang, zu einer
Ellipse abgeändert werden könne. Wissenschaftshistorisch betrachtet, handelt es
sich dabei um die Auffassung Keplers, nach der sich Planeten auf Ellipsenbahnen
um die Sonne bewegen, wie das erste keplersche Gesetz festlegt.
Die Bewegung der Kometen weist gegenüber der
Kreisbewegung eine noch größere Verschiedenheit ihrer Bahnen auf als die
Planeten: Soweit die Beobachtung reiche, zeige sich nämlich, dass die Kometen
„nicht einmal im Kreise zurückkehren“ (A 662/B 690). Aus diesem Grund
werde, über die Bewegung der Planeten hinausgehend, aus der Verwandtschaft der
Ellipse mit der Parabel hypothetisch auf einen parabolischen Lauf der Kometen
geschlossen. Werde die lange Achse der Ellipse sehr weit gestreckt, dann könne
diese in der Beobachtung von der Parabel nicht unterschieden werden.
Die Erkenntnis, dass sich die Kometen in einem
parabolischen Lauf um die Sonne bewegen, wurde demnach aufgrund des
hypothetischen Vernunftgebrauchs und seinen transzendentalen Grundsätzen
gewonnen, d. h., ausgehend von besonderen Fällen wurde dem Prinzip der Homogenität
folgend eine allgemeine Regel erschlossen und von dieser in Form der
Spezifikation wieder auf die einzelnen Fälle geschlossen. Damit bilden die
Theorien zur Planetenbewegung, d. i. der Kreis, die Ellipse und die
Parabel, Vernunftideen, von denen aus die Beobachtung ausgedehnt und jede
Abweichung aus demselben Prinzip zu erklären versucht werden kann.
Ausgehend von dem bereits skizzierten Fortschritt der
jeweiligen Theorien führt Kant das Planetenbeispiel des Anhangs wie folgt
weiter aus:
So kommen wir nach Anleitung jener Principien auf
Einheit der Gattungen dieser Bahnen in ihrer Gestalt, dadurch aber weiter auf
Einheit der Ursache aller Gesetze ihrer Bewegung (die Gravitation); von da wir
nachher unsere Eroberungen ausdehnen und auch alle Varietäten und scheinbare
Abweichungen von jenen Regeln aus demselben Princip zu erklären suchen, endlich
gar mehr hinzufügen, als Erfahrung jemals bestätigen kann, nämlich uns nach den
Regeln der Verwandtschaft selbst hyperbolische Kometenbahnen zu denken, in welchen
diese Körper ganz und gar unsere Sonnenwelt verlassen und, indem sie von Sonne
zu Sonne gehen, die entfernteren Theile eines für uns unbegrenzten Weltsystems,
das durch eine und dieselbe bewegende Kraft zusammenhängt, in ihrem Laufe
vereinigen. (A 663/B 691)
Aufgrund der Anleitung der Prinzipien der Homogenität,
der Spezifikation und der Kontinuität könne, auch wenn es sich um Schlüsse
handle, welche die Erfragung weit überschreiten, auf die „Einheit der Gattungen
dieser [Planenten-]Bahnen in ihrer Gestalt“ (A 663/B 691) sowie auf
„die Einheit der Ursache aller Gesetze ihrer Bewegung (Gravitation)“
(A 663/B 691) geschlossen werden, mit denen Newton die keplerschen
Gesetze herleitet. Anhand des Gesetzes der Gravitation als focus imaginarius
können, so Kant, sogar hyperbolische Kometenbahnen gedacht werden. In solchen
hyperbolischen Kometenbahnen werden die Planetenkörper wiederum so aufgefasst,
als ob sie das Sonnensystem verlassen und von Sonne zu Sonne ziehen. Dabei
gehen sie in unbekannte Weltsysteme, die allerdings „durch eine und dieselbe
bewegende Kraft zusammenhäng[en]“ (A 663/B 691), und vereinigen diese
in ihrem Laufe.
Die Astronomie setzt ein nach Prinzipien geordnetes
Ganzes voraus, auch wenn dieses nicht einen Gegenstand im Feld möglicher Erfahrung
bildet. Der Kegel steht im Beispiel des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik dabei für die Kontinuität zwischen den
einzelnen Fällen und der allgemeinen Regel und legitimiert damit den
historischen Wandel der Grundannahmen des Kreises, der Ellipse, der Parabel und
der Hyperbel.
4.3
Transformationen
Die transzendentalen Grundsätze der Vernunft und die
durch sie erschlossenen Vernunftideen der Kreis-, Ellipsen-, Parabel- und
Hyperbelbewegung sind für die astronomische Naturforschung über die Konstruktionshandlungen
des Verstandes hinausgehend wichtig, um wissenschaftliche Leitprinzipien zu
formulieren und den an den Wandel dieser Prinzipien gebundenen historischen
Fortschritt miteinzubeziehen. Die Entwicklung der Grundannahmen in der
Astronomie zeigt bereits, dass die durch die Vernunft erschlossenen Ideen, d.
h. die Kreis‑, Ellipsen-, Parabel-, und Hyperbelbewegung, keine apodiktischen
Gewissheiten bilden, sondern vielmehr heuristisch-pragmatisch angenommene
Ideen, durch die ein systematischer Rahmen der jeweils zeitlich bedingten
Naturforschung gegeben ist. Dabei handelt es sich um ein Theorieelement, das
mit einer Einschränkung auf die Grundsätze des Verstandes undenkbar wäre.
Bemerkenswerterweise hat Kant im Anschluss an den Anhang
zur Transzendentalen Dialektik sowohl
die dort entwickelte Systematik als auch das konkrete Beispiel der Astronomie
im Rahmen der Idee zu einer allgemeinen
Geschichte (IaG AA 8: 18) und im Streit der Fakultäten (SF AA
7: 83) wieder aufgegriffen und zu einer Philosphie der Geschichte entwickelt.[48] Kants
Interesse gilt dabei nicht der geschichtswissenschaftlichen Methodik oder der
Darstellung von Fakten. Sein Ziel ist vielmehr die Generierung eines
„Leitfaden[s] a priori“ (IaG AA 8: 30). Durch diesen sollen
Auswahlkriterien geben werden, „um diese Menge des historischen Wissens, die
Fracht von hundert Kameelen, durch die Vernunft zweckmäßig zu benutzen“ (Anth
AA 8: 227) und damit auch einen „regelmäßigen Gang“ (IaG AA 8: 17)
des Fortschritts der Grundannahmen zu entdecken. Die über die transzendentalen
Grundsätze der Vernunft gewonnenen Ideen der Vernunft dienen als Leitfaden,
„ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als
ein System darzustellen“ (IaG AA 8: 29). In diesem Sinne spricht Kant
auch von einem „Versuch“ (IaG AA 8: 18, 29, 30, 31) bzw.
vom „Wählen“ (IaG, AA 8: 30) eines „besonderen Gesichtspunkt[es] der
Weltbetrachtung“ (IaG, AA 8: 30) und weist damit auf deren heuristische
Funktion hin.
Das Ziel einer Philosophie der Geschichte ist die Suche
nach einer Ordnungsstruktur, d. h. nach einer Perspektive, aus der die
Geschichte sinnvollerweise betrachtet werden kann. Dabei sei es mit dem „Lauf
menschlicher Dinge“ (SF AA 7: 83) ebenso bestellt wie mit der
Bewegung der Planeten: Werden letztere von der „Erde aus gesehen“ (SF
AA 7: 83), scheint deren Bewegung chaotisch – „bald rückgängig, bald
stillstehend, bald fortgängig“ (SF AA 7: 83). Werde dagegen der
„Standpunkt […] von der Sonne aus genommen“ (SF AA 7: 83), gehen sie
beständig ihren regelmäßigen Gang.[49]
Der Anhang zur
Transzendentalen Dialektik entwickelt die transzendentallogische Struktur
des Schließens von dem bedingten Standpunkt auf ein Unbedingtes und reziprok
von diesem Unbedingten zurück auf die einzelnen Fälle.
5 Vernunftprinzipien – das Systematische der
Erkenntnis
5.1
Heuristisch-pragmatische Legitimation des transzendentalen Grundsatzes der
Vernunft
Im ersten Teil des Anhangs
zur Transzendentalen Dialektik lockert Kant die strikte Bindung der
Vernunftbegriffe an die Ideen Gott, Welt und Seele sowie die im Ersten Buch der
Transzendentalen Dialektik
eingeführte syllogistische Struktur der Vernunft.[50] Kant entwickelt darin einen
Ideenbegriff, den er anhand einer Entlehnung aus Newtons Opticks als focus imaginarius (A 644/B 672)[51]
bezeichnet. Die Vernunftideen stellen in diesem Sinne einen perspektivischen
Blickpunkt dar, in dem die Regeln des Verstandes zusammenlaufen und aus dem sie
erklärt werden können.
Die auf den naturwissenschaftlichen Beispielen
gegründete Explikation des Ideenbegriffs birgt dabei die Gefahr einer Reduktion
der Allgemeingültigkeit der Ausführungen auf den Stand der Forschung der
jeweiligen Zeit. Dabei handelt es sich um eine Gefahr, die Kant bewusst
einzugehen scheint, wenn er sich u. a. auf Wissenschaften bezieht, die
seiner eigenen Auffassung nach keine strikte Allgemeingültigkeit beanspruchen
können. Kants Ziel ist es demnach nicht, den Ideenbegriff an die jeweiligen
Wissenschaften – d. h. die Chemie, die Astronomie und die physiologische
Anthropologie – zu binden, sondern eine transzendentallogische Struktur des
Schließens auf Ideen zu entwickeln, wobei diese selbst keine Invarianten
bilden. Er stellt mit den Grundsätzen der Vernunft einen
transzendentallogischen Mechanismus vor, wie Ideen erschlossen und wie bzw. warum
sie durch andere Ideen ersetzt werden. In diesem reziproken Verfahren von
besonderen Fällen auf eine allgemeine Regel – z. B. auf Stahls Prinzip des
Phlogistons, Bonnets und Leibnizʼ Stufenleiter der Wesen oder Keplers
Ellipsenbewegung der Planeten – unterliegen die dadurch erschlossenen Ideen
selbst dem Fortschritt der Forschung. Aus diesem Grund kommt den Vernunftideen
als dem Systematischen der Erkenntnis auch ein anderer Status als den
Grundsätzen des Verstandes zu und Kant klassifiziert sie als unbestimmt objektiv gültig. Basierend
auf diesem Status ist auch eine transzendentale Rechtfertigung im Sinne oder
auch nur in Analogie zu den Verstandesbegriffen unmöglich. Vielmehr
verdeutlicht der intensive Gebrauch wissenschaftlicher Beispiele, dass den transzendentalen
Grundsätzen der Vernunft und den Ideen aufgrund eines hypothetisch angenommenen
Perspektivenwechsels und den dadurch gewonnenen Einsichten auf das „Feld
möglicher Erfahrung“ (A 697/B 725) eine Legitimität zukommt. Die
Ideen geben somit einen systematischen Rahmen vor, in dem der Naturforscher
experimentiert und durch den er sich aufgefordert fühlt, weiter zu rätseln.[52] In diesem Sinne bilden die
erschlossenen Prinzipien oder Elemente in der Chemie die Möglichkeit, die
chemischen Verhältnisse nicht nur empirisch zu prüfen, sondern auf ein Prinzip
hin zu untersuchen. Die Stufenleiter der Geschöpfe wiederum fordert den
Naturforscher auf, dort wo sich Lücken und Klüfte zeigen, weitere zu suchen.
Dabei wird in all diesen Disziplinen in Form eines Als-Ob angenommen, dass die
jeweiligen Grundannahmen wahr sind und darauf aufbauend mögliche Folgerungen
und Hypothesen über den systematischen Zusammenhang antizipiert. Im Rahmen der
heuristisch-pragmatischen Argumentation ist zentral, dass weder die Chemikerin
bzw. der Chemiker noch die Anthropologin bzw. der Anthropologe durch ein Rechtsverfahren
dazu verpflichtet ist, tatsächlich zu glauben, dass diese Ideen existieren,
vielmehr wird der Fortschritt der Forschung diese ersetzen oder in ihrem Recht bestätigen.
Anhand der Entwicklungsgeschichte der astronomischen Grundannahmen und deren
systematischen Zusammenhang hat Kant genau dies exemplifiziert.
Kant integriert damit über den Objektbezug des Denkens
hinaus eine metareflexive Perspektive, auf die hin Erkenntnisse geordnet und
von der aus Zusammenhäng in der Natur deutlich werden sollen. Deren mittelbarer
Einfluss auf die Objekte der Forschung weist dabei auf, dass es sich nicht bloß
um logisch-präskriptive, sondern objektiv-deskriptive Annahmen handelt, in dem
Sinne, dass durch sie etwas über die Natur ausgesagt wird, ohne aber
Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zu sein. Die Beispiele des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik
zeigen folglich, dass der Grundsatz der Vernunft nicht bloß durch „einen
Mißverstand für einen transscendentalen Grundsatz der reinen Vernunft gehalten“
(A 309/B 365f. ) wird, sondern eine entsprechende
Legitimität in der Naturforschung hat. Das bedeutet, auch wenn die metaphysisch-ontologischen bzw. epistemisch-methodischen Rechtfertigungsversuche der
Vernunftbegriffe ohne Erfolg bleiben, ist der transzendentale Status dieser
Prinzipien und der durch sie erschlossenen Ideen nicht in Frage gestellt, da
mit ihnen etwas über die Natur ausgesagt wird, ohne allerdings von diesen aus
die Natur zu konstituieren. Vielmehr wird ein Zweckbegriff explizit gemacht,
der in reziprokem Verhältnis zu den einzelnen Fällen steht und daher nicht bloß
begriffliche Abstraktion ist.
Kant führt diesbezüglich in der Transzendentalen Dialektik zwei Unterscheidungen ein: Erstens
differenziert er zwischen einem logischen und einem realen Vernunftgebrauch
sowie zweitens zwischen einem regulativen und einem konstitutiven
Vernunftgebrauch. Dabei bezieht sich die zweite Unterscheidung bereits auf den
realen Vernunftgebrauch. In ihr wird eine Differenzierung hinsichtlich der
Interpretation des Unbedingten vorgenommen und nicht nur des (logischen)
Verhältnisses von Bedingungen. Konstitutiv werde die Vernunft dabei gebraucht,
wenn die Naturforschung bei den höchsten Prinzipien beginnt und die
vollständige zweckmäßige Einheit im „Wesen der Dinge“ (A 694/B 722)
und den „allgemeinen und notwendigen Naturgesetzen“ (A 694/B 722)
selbst vorausgesetzt wird. In diesem Sinn erweise sich die Vernunft als verkehrte und faule Vernunft (A 691/B 719),
da sie die Anstrengungen scheue, die ihr ein kritisches Denken aufbürde.
Regulativ betrachtet sei die systematische bzw. vollständige zweckmäßige
Einheit hingegen „die Schule und selbst die Grundlage der Möglichkeit des größten
Gebrauches der Menschenvernunft“ (A 695/B 723). Als solche erlaube
sie in rechtmäßiger Weise den Umweg über eine fiktive Welt der Ideen, um
damit die Gegenstände im Feld möglicher Erfahrung noch einmal zu sehen und zwar
so, wie sie uns „im Rücken liegen“ (A 644/B 672) – also nicht, wie sie uns
erscheinen, wenn sie „uns vor Augen sind“ (A 644/B 672) und erkannt
werden. Ohne Vernunft wäre der Verstand demnach auf den engen Umkreis der
Erfahrung angewiesen und könnte über diesen nicht hinausgehen. Kant kritisiert
in diesem Sinne in allen drei Disziplinen der metaphysica specialis die konstitutive Verwendung des Grundsatzes
der Vernunft und der Ideen, aber nicht den Grundsatz der Vernunft selbst.
5.2
Ideelle Interpretation der Vernunftideen
Der Grundsatz der Vernunft und die durch ihn
erschlossenen Ideen bieten die transzendentallogische Struktur, durch die eine Naturlehre mit Blick auf Kants
Einteilung von 1786 zur rationalen
Naturwissenschaft werden kann. Dabei zerfällt diese in eine eigentliche und eine uneigentliche Naturwissenschaft. Über
die Eigenschaften hinaus, die durch den Status der rationalen Naturwissenschaft
bestimmt werden – das ist der systematische Zusammenhang nach einem Prinzip –,
zeichnet sich die eigentliche
Wissenschaft durch einen reinen Teil
aus, „auf dem sich die apodiktische Gewißheit“ (MAdN AA 4: 469) der
Verhältnisse ihrer Teile bestimmen lässt. Den uneigentlich genannten
Wissenschaften hingegen kommt diese Gesetzmäßigkeit nicht zu.
Die Chemie und wie gezeigt wurde auch die physiologische
Anthropologie bilden solche uneigentlichen Wissenschaften, da in ihnen
Vernunftideen, d. h. einmal die Elemente und Prinzipien und einmal die
Stufenleiter der Geschöpfe, vorgegeben sind, auf die hin und von denen aus die
einzelnen Verbindungen der Stoffe bzw. der Lebewesen untersucht werden, ohne
sie auf der Basis der Grundsätze des Verstandes zu konstruieren (MAdN
AA 4: 470f.). Die Astronomie hingegen weist mit dem Gravitationsgesetz einen reinen Teil auf und zeichnet sich
dadurch als eigentliche Wissenschaft aus. Über ihre Charakterisierung als
eigentliche Wissenschaft ist sie der Einteilung der Metaphysischen Anfangsgründe der
Naturwissenschaft gemäß auch als rationale Naturwissenschaft gekennzeichnet
und weist damit einen Zusammenhang nach Prinzipien auf. Eine empirische
Wissenschaft wie die Astronomie umfasst aus diesem Grund sowohl die
konstitutiven Grundsätze des Verstandes, die auf das Feld möglicher Erfahrung gerichtet sind und eine Verknüpfung der
Erkenntnis durch Gründe und Folgen leisten, sowie die regulativen Grundsätze
der Vernunft, die nicht unmittelbar auf das Feld möglicher Erfahrungen
gerichtet sind, sondern Maximen des
Forschens (A 666/B 694)
bilden.
Kant anerkennt zwei nicht aufeinander reduzierbare
Gesetzmäßigkeiten im Rahmen der Kritik
der reinen Vernunft und wendet sie auch in der Klassifikation der
Naturlehre in den Metaphysischen
Anfangsgründen der Naturwissenschaft an: einerseits die Subsumtion eines
bestimmten Falles unter ein gegebenes Gesetz – der Grundsatz des Verstandes –,
andererseits das heuristische Schließen von gegebenen Fällen auf eine noch
nicht gegebene Regel (Idee) und die Antizipation von möglichen Fällen unter
dieses Gesetz – der Grundsatz der Vernunft.
Beide Gesetzmäßigkeiten sind ihrer
transzendentallogischen Struktur nach verschieden und lassen sich daher nicht
aufeinander reduzieren, wie Kant auch in der Einteilung der Naturlehre in der
Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft deutlich
macht. Aus diesem Grund ist die kategorische
Interpretation der Einteilung der Naturlehre
und damit eine Reduktion des Status der rationalen
Naturwissenschaft auf die Tafel der Kategorien bzw. auf die Grundsätze des
Verstandes einseitig. Sie berücksichtigt nicht die in der Kritik der reinen Vernunft unabhängig vom Verstand entwickelte
Gesetzmäßigkeit der Vernunft, auch wenn diese auf den Verstand bezogen ist.
Gleichzeit zeigt sich aber auch, dass sich die rationale Naturlehre nicht bloß
über eine Einordnung von Urteilen und Begriffe legitimieren lässt. Vielmehr
wird durch den Prozess des Suchens nach immer höheren Bedingungen die jeweils
erschlossene Bedingung als Unbedingtes angenommen und damit eine Idee, die in
Form eines Als-Ob den systematischen Rahmen einzelner Disziplinen schafft. In
diesem Sinne reicht auch die systematische
Interpretation der rationalen Naturwissenschaft zu kurz.
6 Resümee
In Form einer wissenschaftstheoretischen
Problematisierung der Beispiele des ersten Teils des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft wurden in dieser Untersuchung Kants
transzendentaler Grundsatz der Vernunft sowie seine Prinzipien
(Homogenität/Spezifikation/Kontinuität) und die durch diese Grundsätze
erschlossenen Vernunftideen analysiert. Ideen bilden nach Kant dabei focii
imaginarii, wie sie in Stahls Prinzipienchemie in Form der Elemente der reinen
Erde, des reinen Wasser, der reinen Luft etc. oder in Leibnizʼ und Bonnets
physiologischer Anthropologie in Form der Stufenleiter der Geschöpfe oder mit
Blick auf die Entwicklungsgeschichte astronomischer Grundannahmen in Form der
Kreis-, Ellipsen-, Parabel- und Hyperbelbewegung der Planeten gegeben sind.
Kant bedient sich im ersten Teil des Anhang zur Transzendentalen Dialektik so
ausführlich dieser wissenschaftstheoretischen Beispiele, da er durch sie den
transzendentalen Status des Grundsatzes der Vernunft und die durch ihn
erschlossenen Vernunftideen darstellen und in praktischer Weise sowie in
pragmatischer Hinsicht legitimieren kann. In diesem Sinne stellt die
Argumentation entgegen einer metaphysisch-ontologischen
und epistemologisch-methodischen
Argumentationsstrategie eine zwar viel schwächere, aber dennoch ausreichend
begründete heuristisch-pragmatische
Rechtfertigung basierend auf den naturwissenschaftlichen Verweisen Kants
vor.
Diese heuristisch-pragmatisch legitimierten Grundsätze
der Vernunft und ihre Ideen bilden wiederum die Voraussetzung für Kants
Klassifikation der Naturlehre als rationale
Naturwissenschaft. Sie zeichnet sich durch ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes aus. Entgegen der kategorialen und systematischen Interpretation wurde demnach ausgehend von den Beispielen des Anhangs
zur Transzendentalen Dialektik für eine ideelle
Interpretation argumentiert. Dieser folgend lässt sich die Gesetzmäßigkeit
rationaler Naturwissenschaft nicht auf die Grundsätze des Verstandes
zurückführen. Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft vielmehr neben
den Grundsätzen des Verstandes mit den Grundsätzen der Vernunft eine
Gesetzmäßigkeit entwickelt, der ein eigenständiger Status zukommt. Gleichzeitig
ist aber entgegen der systematischen
Interpretation nicht nur das Bedingungsgefüge von wissenschaftlichen
Urteilen und Begriffen für die Systematisierung relevant, sondern darüber
hinaus eine hypothetisch angenommene Vernunftidee, wie sie in Stahls
Prinzipienchemie, Leibnizʼ und Bonnets physiologischer Anthropologie sowie
Keplers Theorie der Planetenbewegung vorliegt.
Acknowledgement
This research was supported by the Russian Academic
Excellence Project at the Immanuel Kant Baltic Federal University.
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· Dr. Rudolf Meer is post-doc researcher at the Center of History of
Science, University of Graz and research assistant in the Project Kantian
Rationality and Its Impact in Contemporary Science, Technology, and Social
Institutions (PI: Prof. Thomas Sturm - No. 2019-220-07-5933) His areas of
specialization are Kant’s theoretical philosophy, the realism/non-realism
debate, and the relations between philosophy and history of science. E-Mail: rudolf.meer@uni-graz.at
[1] Für einen
Überblick zu den aktuellen Kontroversen um den Anhang zur Transzendentalen
Dialektik siehe Willaschek (2018, pp. 17–98); Ypi (2017, pp. 163–165); Thöle (2000, pp. 113–148); Meer (2019a, pp. 3–8); Grier (2001, pp. 261–270); Klimmek (2005, pp. 17–51).
[2] Der von Kant immer wieder
verwendete Plural im Begriff Grundsätze
der Vernunft (A 306/B 363; A 308/B 365;
A 661/B 689; A 663f./B 691–A 668/B 696) bzw. auch
Prinzipien der Vernunft (A 651/B 679) bezieht sich auf die
Dreiteilung von Homogenität, Spezifikation und Kontinuität als
transzendentallogische Struktur des einen transzendentalen Grundsatzes der
Vernunft (A 307/B 364; A 648/B 676;
A 650/B 678). Siehe dazu Fußnote 11.
[3] Die transzendentalen
Vernunftbegriffe sind in der metaphysisch-ontologischen Argumentation aufgrund
ihres Verhältnisses auf eingebildete Gegenstände (A 570/B 698)
bzw. auf ein „Analogon von einem Schema der Sinnlichkeit“ (A 665/B 693)
legitimiert, die unter diese Ideen subsumiert werden. Es kommt demnach zu einer
Objektivierung bzw. Hypostasierung der Vernunftbegriffe. Diese
Argumentationsstrategie findet sich überwiegend im zweiten Teil des Anhangs
zur Transzendentalen Dialektik (A 673/B 701), aber auch schon am
Ende des ersten Teils (A 664f./B 692f.). Siehe dazu La Rocca
(2011, pp. 29–47); Rescher (2000, pp. 283–328); Pilot (1995, pp. 155–192); Allison (2004, p. 438);
Wartenberg (1992, p. 232).
[4] Die transzendentalen Prinzipien
bzw. transzendentalen Ideen sind in der epistemologisch-methodischen
Argumentation den logischen Maximen vorausgesetzt, da durch diese die letzteren
allererst ermöglicht werden (siehe A 650f./B 678f.; aber auch
A 307f./B 364; mit Blick auf das Prinzip der Spezifikation
A 656/B 684; auf das Prinzip der Homogenität
A 653f./B 681f.; auf das Prinzip der Kontinuität
A 657/B 685; im zweiten Teil des Anhangs u. a.
A 671/B 699). Siehe dazu Caimi (1995, p. 315); Zöller (1984, pp. 257–271); Klimmek (2005, p. 64); Horstmann
(1997, pp. 109–130).
[5] Durch die Suche nach den Bedingungen des
Bedingten wird in der heuristisch-pragmatischen Argumentation die Erkenntnis
erweitert und dabei hypothetisch angenommen, dass diese Bedingungen existieren.
Durch diese Erweiterung werden wiederum neue Einsichten erzeugt, die durch den
Verstand bestätigt werden können. Gerechtfertigt ist der transzendentale
Gebrauch der Vernunftprinzipien bzw. -ideen demnach durch ihre heuristische und
pragmatische Funktion im Prozess der Erkenntnis (u. a. A 663/B 691).
Siehe dazu vor allem die Ausführungen von Willaschek (2018, pp. 128ff.).
[6] Zu weiteren, ähnlich gelagerten
Differenzierungen des Forschungsstandes siehe Zocher (1958, p. 58);
Buchdahl (1984, p. 98); Bondeli (1996, p. 172); Allison (2004,
p. 438); Wartenberg (1992, p. 232).
[7] Trotz des
zunehmenden Interesses an der systematischen Relevanz des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik und seiner Bedeutung für Kants Konzeption von
Naturwissenschaft (u. a.: Kitcher 1986, pp. 201–235; Marcucci 1988, pp. 43–69;
Watkins 2000, pp. 70–89; McNulty 2015, pp. 1–10; Massimi 2017, pp. 63–84) bleiben die wissenschaftshistorischen Quellen zum
regulativen Vernunftgebrauch bis dato unterbelichtet.
[8] Alle Gesetzmäßigkeiten, die in Form
einer Notwendigkeit vorgetragen werden, stehen in einem indirekten Verhältnis
zu den Grundsätzen des Verstandes. Systematizität ist demnach nur ein
zusätzliches Hilfsmittel für Erfahrungsgesetze, die allerdings keinen
eigenständig begründeten Status aufweist (siehe dazu Friedman 1992a, pp. 161–199; 1992b, pp. 165–201; 1992c, pp. 73–102).
[9] Der Zusammenhang von Begriffen – in
einer Hierarchie von wissenschaftlichen Urteilen und deren Annäherung an ein
Ideal – bildet eine eigene Quelle für die Notwendigkeit von Gesetzen und ist
damit unabhängig von den Grundsätzen des Verstandes zu explizieren. In
unterschiedlichen Ausführungen entwickeln dies Buchdahl (1966,
pp. 209–226; 1971, pp. 24–46); Kitcher (1986, p. 215); Rush
(2000, p. 847); Guyer (2003, p. 287); Van den Berg (2011, pp. 11–16).
[10] Die über die transzendentalen
Grundsätze der Vernunft gewonnenen Ideen werden im Sinne eines Als-Ob
apodiktisch angewandt und bilden eine eigene Quelle für apriorische
Gesetzmäßigkeit. Siehe dazu insbesondre McNulty (2015, pp. 4–7); Massimi (2014, pp. 491–508); Henschen (2014, pp. 20–29) sowie Watkins (2014, pp. 471–490).
[11] Kant differenziert zwischen
Vernunftprinzipien der Homogenität, der Spezifikation, der Kontinuität und den
Vernunftideen Gott, Welt, Seele. Dabei weisen die Einleitung und der erste Teil
des Anhangs zur Transzendentalen
Dialektik enge Bezüge auf, die sich nicht nur inhaltlich (Willaschek 2018, pp. 107ff.; Horstmann 1998, pp. 527), sondern auch strukturell (Meer 2019b, pp. 7–29) nachweisen
lassen. Die Explikation der Vernunftideen Gott, Welt und Seele im zweiten Teil
des Anhangs ist wiederum in einem engen Verhältnis zu den Ausführungen des
Ersten Buches der Transzendentalen
Dialektik zu sehen (Willaschek 2018, pp. 167ff.;
Klimmek 2005, p. 40; Meer 2019a, pp. 84ff.).
[12] Im zweiten Teil des Anhangs sind
die Referenzen auf die Naturforschung weniger konkret. Im Mittelpunkt stehen
der Gottesbegriff und eine Auseinandersetzung mit seiner deistischen und
theistischen Interpretation. Allerdings werden in Bezug darauf auch
naturwissenschaftliche Fragestellungen entwickelt, insbesondere wenn Kant
explizit auf die Erdgeschichte bzw. die physische Geographie und die
Physiologie der Ärzte (A 687/B 715) zu sprechen kommt.
[13] Kant spricht im ersten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik
von Vernunftideen wie reine Erde, reines Wasser, reine Luft, die Stufenleiter
der Geschöpfe sowie die Kreis-, Ellipsen-, Parabel- und Hyperbelbewegung der
Planeten. Es ist daher ein Ideenbegriff im engen Sinne, unter den die Begriffe
Gott, Welt und Seele fallen, von einem Ideenbegriff im weiteren Sinne zu
unterscheiden, unter den die hier genannten Konzepte zu subsumieren sind
(McLaughlin 2014, p. 557). Dabei ist es nicht der jeweilige Inhalt der
Ideen, der die systematische Einheit schafft, sondern der durch diese Begriffe
erschlossene reflexive Standpunkt (Massimi 2017, p. 64).
[14] Dabei handelt
es sich um eine Differenzierung, die Kant in den 70er Jahren (Refl AA 17:
99–713) entwickelt. Dort unterscheidet er einen empirischen bzw. physischen und
einen metaphysischen bzw. hyperphysischen Grundsatz (Refl AA 18: 222; siehe
auch Refl AA 18: 357, 380, 389; sowie: Birken-Bertsch 2006, pp. 145–154; Guyer
1997, pp. 391–396).
[15] Der
„eigenthümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt (im logischen Gebrauche)“
(A 307/B 364) bestehe darin, „zu dem bedingten Erkenntnisse des
Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet
wird“ (A 307/B 364). Eine solche Maxime sei demnach nur ein „Gesetz
der Haushaltung mit dem Vorrat unseres Verstandes“ (A 306/B 362). Mit
einem solchen werde keine substanzielle Aussage über Gegenstände der Erfahrung
gemacht. Siehe dazu auch A 648/B 676 und A 655/B 683 im
ersten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik.
[16] Der
transzendentale Grundsatz der reinen Vernunft als „oberste[s] Prinzip der
reinen Vernunft“ (A 308/B 365) hingegen besagt: „[W]enn das Bedingte
gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen,
die mithin selbst unbedingt ist, gegeben“ (A 307f./B 364). Dabei
handle es sich um einen synthetischen bzw. transzendentalen Grundsatz, da sich
das Bedingte nicht nur wie im analytischen Grundsatz auf eine Bedingung
beziehe, sondern „aufs Unbedingte“ (A 308/B 364). Transzendental ist
der Grundsatz der Vernunft, wenn er „die systematische Einheit nicht bloß
subjectiv und logisch=, als Methode, sondern objectiv nothwendig machen würde“
(A 648/B 676). In diesem Sinne definiert Kant die Prinzipien der
Sparsamkeit der Grundursachen (Homogenität), der Mannigfaltigkeit der Wirkungen
(Spezifikation) und der Verwandtschaft der Glieder (Kontinuität) der Natur als
„Grundsätze“ (A 661/B 689), die „vernunftmäßig und der Natur
angemessen“ (A 661/B 689) sind (A 657/B687,
A 654/B 682).
[17] In diesem Sinne argumentieren Grier
(2001, p. 122, p. 269), Allison (2004, p. 339), Renaut (1998,
p. 356), Stang (2016, p. 290), Proops (2010, p. 456) und Kreines
(2015, p. 115) dafür, dass die zu vermeidende transzendentale Illusion
in der Verwechslung von subjektiven und objektiven Prinzipien besteht und dem
regulativen Vernunftgebrauch kein transzendentaler Status zukommt, sondern dass
er eine rechtmäßige Verwendung nur als subjektive und logische Maxime der
Ordnung hat. Damit fällt aber das logische Prinzip mit dem regulativen zusammen
und damit Kants zweistufige Unterscheidung zwischen logischem und realem
Vernunftgebrauch sowie regulativem und konstitutivem Vernunftgebrauch (siehe
dazu die Kritik von Willaschek 2018, pp. 103f., pp. 116ff.; Anderson
2015, pp. 281ff.; Massimi 2017, pp. 68–72).
[18] Viele Interpretinnen und Interpreten
haben die generelle Relevanz eines transzendentalen Grundsatzes der Vernunft
und des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik im Rahmen der ersten
Kritik bestritten, dabei allerdings zu wenig seine Funktion für Kants
Philosophie der (Natur-)Wissenschaften berücksichtigt (u. a. Serck-Hanssen
2011, p. 67; Baum 2001, p. 34; Henrich 1976, p. 39).
[19] Zum Verhältnis der kantischen Klassifikation der Naturwissenschaft in den Metaphysischen Anfangsgründen der
Naturwissenschaft und der Kritik der
reinen Vernunft siehe insbesondere Van den Berg (2011, pp. 11–16), aber auch
Plaass (1965, p. 38); Pollok (2001, pp. 58f.); Watkins (1998,
p. 568). Zur Bedeutungsverschiebung dieser
Klassifikation der Metaphysischen
Anfangsgründe der Naturwissenschaft gegenüber den Prolegomena siehe Pollok (2001, pp. 61f.).
[20] Kant differenziert Naturwissenschaft
hier zweifach, entwickelt aber in den Metaphysischen
Anfangsgründen der Naturwissenschaft nur die Körperlehre (MAdN AA 4: 468).
Zur Relevanz dieser Unterscheidung für die empirische Psychologie siehe
u. a. Sturm 2006, pp. 353–377; Nayak/Sotnak 1995, pp. 133–151.
[21] Basierend auf der kategorischen Interpretation (siehe dazu
Fußnote 8) der Einteilung der Naturlehre ist diese für Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft
zentrale Differenzierung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Wissenschaft
nicht aufrechtzuhalten (Kitcher 1994, p. 258). Wird die Gesetzmäßigkeit
zum Beispiel der Chemie auf die Grundsätze des Verstandes zurückgeführt, muss
auch die uneigentliche Wissenschaft selbst (indirekt) in einem Verhältnis zur
eigentlichen Wissenschaft stehen. Zudem wird die hierarchisch organisierte
Unterscheidung zwischen rationaler Wissenschaft und eigentlicher Wissenschaft
fragwürdig (Meer 2018, pp. 344–347).
[22] Der systematischen
Interpretation folgend (siehe dazu Fußnote 9) beruht die Gesetzmäßigkeit
rationaler Naturwissenschaft lediglich auf dem Zusammenhang von
wissenschaftlichen Begriffen und Urteilen, der durch den Grundsatz der Vernunft
geleistet wird. Dies führt dazu, dass es offenbleibt, wie der Zusammenhang mit
Folgeschlüssen die Notwendigkeit dieser Gesetze legitimiert (McNulty 2015,
p. 3). Darüber hinausgehend wird hier argumentiert, dass den hypothetisch
erschlossenen Vernunftideen (den Prinzipien der Chemie, der Stufenleiter der
Geschöpfe in der physiologischen Anthropologie, der Kreis-, Ellipsen-, Parabel-
und Hyperbelbewegung in der Astronomie) ein wesentlicher Beitrag – als oberster
Probierstein der Wahrheit – in der Legitimation der Notwendigkeit solcher
Gesetzmäßigkeiten zukommt.
[23] In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von 1786 ist
eine auf messbare Größen und Eigenschaften gerichtete Chemie (Stark 2013,
p. 246; Friedman 1992b, pp. 282–288) für Kant kein entscheidender
Faktor, obwohl sich in der Danziger-Physik-Nachschrift
von 1785 bereits einige Hinweise dazu finden. Diese Position Kants bricht allerdings im Zuge der 90er Jahre
zunehmend auf. Kant wendet sich, wie aus Briefen und Reflexionen bekannt ist,
zunehmend von Stahl ab und zu Lavoisier hin. Dieser Prozess der Abkehr und
Neuorientierung findet spätestens 1797 in der Metaphysik der Sitten eine pointierte Formulierung: „[E]s giebt nur
Eine Chemie (die nach Lavoisier)“ (MS AA 6: 206; siehe auch Anth AA 7: 326).
Kants Abkehr von Stahl zu Lavoisier lässt sich demnach zwischen 1785 und 1797
festmachen und hat in der Forschung verschiedenste Positionen evoziert. Dabei
stehen sich, die Datierung betreffend, schematisch skizziert drei Lager
gegenüber: Jene Positionen, die Kants Bekehrung zu Lavoisier bereits in den
80er Jahren verankern, jene, die die Wende noch vor dem Jahr 1795 datieren, und
jene, die sie mit dem Jahr 1795 identifizieren (für einen Überblick siehe
Friedman 1992b, pp. 282–288; Carrier 2001, pp. 205–230; McNulty 2019,
pp. 1595–1622).
[24] Zum Spannungsverhältnis von Chemie
und Physik siehe McNulty (2017, p. 87); Friedman (1992b,
pp. 264–316); Lequan (2000).
[25] Obwohl die Kräfte in der Chemie
analog zur Gravitation konzipiert sind, weisen sie nach Newton grundlegende
Unterschiede auf: Erstens variiert die Stärke der chemischen Attraktion im
Unterschied zur Gravitation, die auf alle Substanzen nur aufgrund des
Verhältnisses der Massen wirkt, substanzspezifisch. Zweitens weisen
interpartikulare Kräfte einen Sättigungspunkt auf, über dem keine weitere Attraktion
mehr erfolgt. Newton deutet mit diesem zweiten Aspekt bereits ein Kriterium an, anhand
dessen die Stärke der Affinität bestimmt werden kann: Je größer die Affinität
ist, umso größer wird die zur Sättigung erforderliche Menge des
Reaktionspartners (Newton
1730, p. 380).
[26] Darin sind die Elemente in der
Reihenfolge ihrer abnehmenden Affinität angeordnet. Verdrängt ein Stoff einen
anderen aus der Verbindung mit einer dritten Substanz, dann ist seine Affinität
zu jener größer (Geoffroy 1718, p. 202). Zu den Kontinuitäten und Brüchen
zwischen Newton und Geoffroy siehe Thackray (1970, pp. 90–95); Stengers
(1998, pp. 550f.); Carrier (1986a, pp. 329f.); Duncan (1996,
p. 37).
[27] Zur Geschichte der Tafeln der
Affinitäten siehe Duncan (1996, pp. 110–176); Klein (1994).
[28] In vergleichbarer Weise
argumentiert Stahl: „Die Chymie […] ist eine Kunst, die gemischten, oder
zusammengesetzten, oder zusammengehäufften (aggregata) Körper, in feine
principia zu zerlegen, oder aus solchen principiis zu dergleichen Körper wieder
zusammen zu fügen.“ (Stahl 1720b, p. 1)
[29] Basierend auf dieser kantischen
Feststellung differenziert sich die hier entwickelte Analyse der Notwendigkeit
empirischer Gesetze der Chemie von jener McNultys (2015, pp. 1–10), der
ausgehend vom Anhang zur Transzendentalen
Dialektik und mit Verweis auf A 159/B 198 eine stärkere
Notwendigkeitskonzeption beansprucht.
[30] Terminologisch legt Stahl in den Zufälligen Gedancken fest, dass das
Phlogiston „das erste, eigentliche, gründliche brennliche Wesen […] von seinen allgemeinen
Würkungen benennt, die es in allerley […] Vermischungen
erweiset. Und dieser
wegen habe ich es mit dem Griechischen namen Phlogiston, zu Teutsch brennlich
belegt.“ (Stahl 1718, p. 80)
[31] Nach Stahl gibt das Salz dabei die
„cörperliche Größe, Schwehre, Dichte und Festigkeit, Feuerbeständigkeit und
Schmeltzlichkeit (Stahl 1718, p. 73). Das Schwefelprinzip sei für die
Farbe und Verbrennung zuständig. Das Phlogiston wiederum sei die Ursache aller
Verbrennung und Verkalkung. Das Quecksilber sei verantwortlich für die
metallischen Eigenschaften, d. i. „Schmeidigkeit“ (Stahl 1718, p. 73)
und „Zähigkeit“ (Stahl
1718, p. 73)
[32] In diesem Sinne tritt Stahl, der
Auffassung Kants nach, auch „in der Qualität […] eines bestallten Richters“
(B VIII) auf, der mit Prinzipien und nach diesen ausgerichteten
Experimenten die Natur befragt.
[33] Dies führt ihn auf ontologischer Ebene zur Akzeptanz der Korpuskulartheorie: „Was wir jetzund von den allerkleinesten natürlichen Corpusculis gesagt haben, deutet an, daß die anfänglichen einfachen Corpuscula, welche man vulgo principien nennet, eben die undurchdringliche und würckliche dichten Theile sind, weil sie weiter in sich keine Resolution zulassen können.“ (Stahl 1720a, p. 17) Stahl nimmt demnach Korpuskeln an, lehnt diese aber auf der Erklärungsebene chemischer Prozesse ab (Partington 1962, 2. Bd., p. 665; Carrier 1986b, p. 5).
[34] In diesem Sinne stellt sich Stahl –
mit explizitem Bezug auf Aristoteles, aber implizit gegen Kant – auch vehement
gegen die Kontinuitätstheorie der Materie, da im Rahmen seiner Prinzipienchemie
die Elemente aus den jeweiligen Verbindungen zu destillieren sind (Stahl 1720a,
pp. 12ff.).
[35] Dabei gewinnt
die zweite der beiden Beschreibungen der Prinzipien in Stahls Entwicklung – vor
allem aufgrund des zunehmenden Drucks, die Chemie von nicht empirisch
überprüfbaren Bestandteilen zu befreien – zunehmend an Bedeutung (Carrier 1990, p. 198; Klein 1994,
p. 46).
[36] Würden sich die Elemente in der
chemischen Untersuchung differenzieren lassen, wäre die gesamte Argumentation
zirkulär, denn durch diese Prinzipien sollen die Eigenschaften von Substanzen
beschrieben werden, weshalb sie nicht selbst Untersuchungsgegenstand sein
können (Carrier 1990, p. 198). Werden die Elemente aber bloß als abstrakte
Entitäten aufgefasst, bleibt die Verbindung zu den darunterfallenden Varietäten
ungeklärt.
[37] Kant hat dabei in erster Linie die
Anthropologie E. Platners vor Augen, wie insbesondere Herz’ Rezension zu
Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise zeigt (Herz 1773, pp. 25–51;
dazu auch Thiel 2007, pp. 139–161; Sturm 2009, p. 265).
[38] Siehe dazu auch Sturm (2009,
pp. 307f.); Thiel (2014,
pp. 963–983).
[39] Zu diesem Spannungsverhältnis siehe
auch Sturm (2006, pp. 353–377); Gouaux (1972, pp. 237–242); Hatfield
(1998, pp. 423–428); Leary (1982, pp. 17–42); Mischel (1967,
pp. 599–622); Nayak/Sotnak (1995, pp. 133–151).
[40] Ich folge in diesem Punkt –
entgegen Kim (1994, p. 95), Wood (1999, pp. 196f.; 2004, p. 39,
pp. 45f.) und Zammito (2001, p. 298) – Sturm (2009, p. 289):
„Eben weil Kant die physiologischen Anthropologien nicht wirklich mit
prinzipiellen epistemologischen oder methodologischen Einwänden angreift,
bestreitet er auch nicht, dass sich dieser Ansatz irgendwann einmal zu einer
Wissenschaft entwickeln kann.“
[41] Zum wissenschaftshistorischen Kontext
siehe Cheung 2006, pp. 319–339; Lovejoy 1985.
[42] „Wenn es mir gelungen hat, in der
Sache des Herrn von Leibniz einige Fehltritte wahrzunehmen, so bin ich dennoch
auch hierin ein Schuldner dieses großen Mannes, denn ich würde nichts vermocht
haben ohne den Leitfaden des vortrefflichen Gesetzes der Continuität, welches
wir diesem unsterblichen Erfinder zu danken haben, und welches das einzige
Mittel war, den Ausgang aus diesem Labyrinthe zu finden.“ (GwS AA 1: 181)
[43] Mit Ausnahme von GUGR AA 2: 381.
[44] An besagter Passage (Blumenbach
1814, pp. 13–16) entwickelt Blumenbach eine Widerlegung der
Evolutionshypothese, die sich dann in der neuerlichen Aufnahme der
physiologischen Anthropologie in § 81 der Kritik der Urteilskraft wiederfindet (KU AA 5: 423f.).
[45] Der entscheidende Gewährsmann Kants
im Verweis auf diese Lücken ist dabei bereits 1781 der Naturforscher
Blumenbach, dessen Bedeutung am Ende der 80er Jahre immer zentraler wird (Br
AA 11: 184f.; KU AA 5: 424; ÜGTP AA 8: 180). Siehe dazu u. a.
Zammito (2007, pp. 51–74).
[46] Das Gesetz der Attraktion beruhe
demnach „blos auf dem Verhältnisse der Kugelflächen von verschiedenen
Halbmessern“ (Prol AA 4: 321). Aus diesem Grund können nicht nur alle möglichen
Bahnen der Himmelskörper in Kegelschnitten dargestellt werden, sondern auch die
jeweiligen Verhältnisse untereinander alleine durch das „Gesetz der Attraction
als das des umgekehrten Quadratverhältnisses der Entfernungen zu einem
Weltsystem als schicklich erdacht werden“ (Prol AA 4: 321).
[47] Mit dieser Verbindung von Astronomie und
Philosophie der Geschichte folgt Kant einer Tradition, wie er sie insbesondere
über G.-L. L. Buffon kennt, der die Epigenese der Menschheit
ebenfalls in einer Parallele zur Astronomie denkt (Dougherty 1990, p. 261;
Brandt 2007, p. 190; Motta 2015, pp. 470f.).
[48] Zur Funktion und Bedeutung der
Philosophie der Geschichte in Kants theoretische Philosophie siehe Angehrn
(2004, pp. 328–351); Sturm (2009, pp. 354–363); Yovel (1989); Brandt (2003, pp. 125f.).
[49] Zu den Kontinuitäten und Brüchen von
Kants Konzeption einer Philosophie der Geschichte zwischen der Idee zu einer
allgemeinen Geschichte und dem Streit
der Fakultäten siehe Brandt (2003, p. 127); Cheneval (2002, pp. 401f.);
Kleingeld (1995, pp. 10f.).
[50] Dies ermöglicht es Kant, auch in
der Kritik der Urteilskraft auf das Lehrstück der transzendentalen Grundsätze
der Vernunft bzw. des hypothetischen Vernunftgebrauchs zurückzugreifen (KU
AA 5: 179), wiewohl deren Funktion weiterentwickelt wird (McLaughlin 2014,
pp. 554–572; Ginsborg 1990, pp. 174–192; Seide 2013, pp. 84–89; Dörflinger
2000, pp. 7–26).
[51] Siehe dazu auch Massimi (2017,
pp. 63–84).
[52] Für die Relevanz dieser kantischen
Position im Kontext aktueller wissenschaftstheoretischer Debatten siehe Briesen (2013, pp. 1–32); Majer
(1993, pp. 51–77); Nuzzo (1995, pp. 88–102); Orth (2011,
pp. 157–164).