CON-TEXTOS KANTIANOS.
International Journal of Philosophy N.o 7, Junio 2018, pp. 159-183
ISSN: 2386-7655
Doi: 10.5281/zenodo.1298716
The Immediate Consciousness of Moral Law: Respect and Moral Interest in GMS III
HEIKO PULS
Universität Hamburg, Deutschland
Zusammenfassung
Einer weit verbreiteten Lesart zu folge hat Kant mit seiner Kritik der praktischen Vernunft den Ansatz der Grundlegung zur Metaphysik der Sittenverworfen. Während er in der Grundlegung noch an einer Deduktion der Freiheit und Sittengesetzes arbeite, habe er diesen Gedanken in der zweiten Kritik mit seiner Theorie vom Faktum der Vernunft aufgegeben. Dementsprechend wird auch angenommen, dass das Gefühl der Achtung, welches in Kants Faktum-Lehre eine zentrale Rolle spielt, in der Grundlegung keine zentrale Funktion zukomme. Der vorliegende Aufsatz untersucht die Funktion der Achtung in dieser Schrift und kommt zu dem Ergebnis, dass der Achtung schon dieselbe moralepistemische Funktion zukommt, wie in der zweiten Kritik. Kant behandelt im Kontext der Zirkelproblematik der Grundlegung ausgiebig das moralische Interesse. Dieser Ausdruck ist lediglich ein anderer Begriff für die Achtung. Dieser kommt damit für die Auflösung des Zirkelverdachts in GMS III eine bedeutende Funktion zu und ihre Bedeutung für die Grundlegung als ganze muss revidiert werden.
Contract lecturer for philosophy at the University of Hamburg. E-Mail for contact: heipuls@googlemail.com
Heiko Puls
Achtung, Faktum der Vernunft, Zirkelverdacht, Deduktion
According to a common interpretation, in the Critique of Practical Reason Kant abandons the approach he had taken in the Groundwork of the Metaphysics of Morals: in the Groundwork, he was concerned with a deduction of freedom and the moral law, whereas in the second Critique he drops this idea by introducing his theory of the fact of reason. Consequently, this interpretation assumes that the feeling of respect – which plays a central role in Kant’s doctrine of the fact of reason – does not play a major role in the Groundwork.
This paper investigates the function of respect in the Groundwork and concludes that it has the same moral-epistemic function there as it does in the second Critique. In the context of the circularity problem in the Groundwork, Kant discusses the notion of moral interest extensively. However, this expression simply equates to respect. Hence the latter is decisive in the solution to the circularity problem in GMM III. The significance of respect in the Groundwork must be reassessed.
Respect, fact of reason, circularity, deduction
I.
Einer weit verbreiteten These zufolge hat Kants Theorie der Achtung vor dem Sittengesetz in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zumindest in einer Hinsicht noch nicht jene moralepistemische Funktion inne, die sie in der Kritik der praktischen Vernunft aufweist. Während in der zweiten Kritik die Achtung als ein Teilaspekt des Faktums der Vernunft die unmittelbare und keiner weiteren Begründung bedürfende Einsicht in die Geltung des Sittengesetzes ermögliche – so die These –, komme der Achtung in der erstgenannten Schrift diese wichtige Funktion noch nicht zu. Kant argumentiere hier letztlich mit einer Deduktion des Sittengesetzes; die Achtungserfahrung allein sei nicht hinreichend.1
1 Für eine solche Interpretation vgl. vor allem Schönecker (2013, 104, FN 27) und Schönecker (im Erscheinen). Schönecker schreibt: „Das Bewusstsein des KI ist vermittelt durch die Achtung; und da die Achtung ein Gefühl ist, lautet die Faktum-These Kants: Wir erkennen durch ein unmittelbar gegebenes Gefühl die Geltung des KI. Die These lautet also nicht nur, dass uns die Achtung antreibt, das moralische Richtige zu tun, und Achtung also eine Triebfeder ist. Die Achtung ist ein Gefühl, durch das wir etwas erkennen; wir erkennen nämlich, dass der KI absolute Geltung hat“ (Schönecker 2013, S. 102, Hervorh. von Schönecker). Allerdings stellt er weiter fest: „Der Unterschied zwischen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft liegt darin, dass Kant in der Grundlegung diesen Befund
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Das unmittelbare Bewusstsein des Sittengesetzes
Im folgenden Aufsatz soll die Theorie der Achtung in der GMS näher untersucht werden. Hierzu betrachte ich die zentralen Stellen zur Achtung in der GMS bis hin zur dritten Sektion und anschließend die Stellen in GMS III zum von Kant hier sogenannten
‚moralischen Interesse’, welches mit der Achtung synonym ist. Es wird sich zeigen, dass – anders als oftmals angenommen – der Achtung schon in dieser Schrift die Funktion zukommt, eine unmittelbare Erkenntnis des Sittengesetzes zu leisten, die keine weitere Begründung – etwa in Form einer Deduktion – erfordert.
II.
Der Begriff der Achtung kommt in der GMS schon rein quantitativ seltener vor als in der KpV, und die umfassende Entfaltung der Theorie der Achtung findet sich tatsächlich erst in letzterer. Hier entwickelt Kant eine umfassende Theorie des moralischen Gefühls im Kontext seiner Faktum-These. Damit muss nicht behauptet sein, dass der Achtung in der kürzeren Grundlegungsschrift noch nicht dieselbe Funktion zukommt wie in der zweiten Kritik. Einige Interpreten halten es jedoch sogar für zweifelhaft, dass ihr im Kernstück der GMS, dem dritten Abschnitt, überhaupt eine systematische Funktion zukommt.2
Zunächst sollen Kants Überlegungen zur Achtung in den Sektionen 1-3 bis hin zur dritten Sektion erläutert werden.
Zu Beginn von GMS 400.17 führt Kant den Begriff der Achtung geradezu beiläufig ein, erläutert ihn aber umfangreich in einer langen Fußnote in GMS 401. ‚Achtung’ wird von Kant hier zunächst im Kontext des Pflichtbegriffs (vgl. GMS IV, 400.17ff.) erwähnt: Pflicht sei die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung vor dem Gesetz. Zwar könne man zu einem Objekt als Resultat der geplanten Handlung Neigung haben, niemals aber Achtung. Kant deutet bereits hier eine subjektive Komponente der Achtung an und somit auch ihren Charakter als Gefühl: Für den Willen bliebe nichts übrig, was ihn bestimmen könnte, „als objektiv das Gesetz“ und „subjektiv reine Achtung für dieses praktische
allein (wir haben de facto Achtung vor dem moralischen Gesetz) nicht als für sich rechtfertigend begreift (also gerade nicht als Faktum in diesem rechtfertigenden Sinne) und noch eine Deduktion anbietet“ (Schönecker 2013, S. 104). Diese These kann man mit guten Gründen bezweifeln. Es spricht viel dafür, dass es sich bei der Annahme einer Deduktion des kategorischen Imperativs in GMS III um eine Erfindung seiner Interpreten handelt (vgl. vor allem Ludwig 2018 und Puls 2016)
2 Schönecker (im Erscheinen).
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Gesetz“ (GMS IV, 400.32-33). Auf der nächsten Seite, in GMS IV, 401 FN, findet sich umfangreiche Erläuterung dieses ‚subjektiven’ Moments der Willensbestimmung:
Man könnte mir vorwerfen, als suchte ich hinter dem Worte Achtung nur Zuflucht in einem dunkelen Gefühle, anstatt durch einen Begriff der Vernunft in der Frage deutliche Auskunft zu geben. Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, specifisch unterschieden. Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche bloß das Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze ohne Vermittelung anderer Einflüsse auf meinen Sinn bedeutet. Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subject und nicht als Ursache desselben angesehen wird. Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werthe, der meiner Selbstliebe Abbruch thut. Also ist es etwas, was weder als Gegenstand der Neigung, noch der Furcht betrachtet wird, obgleich es mit beiden zugleich etwas Analogisches hat. Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz und zwar dasjenige, das wir uns selbst und doch als an sich nothwendig auferlegen. Als Gesetz sind wir ihm unterworfen, ohne die Selbstliebe zu befragen; als von uns selbst auferlegt, ist es doch eine Folge unsers Willens und hat in der ersten Rücksicht Analogie mit Furcht, in der zweiten mit Neigung. Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel giebt. Weil wir Erweiterung unserer Talente auch als Pflicht ansehen, so stellen wir uns an einer Person von Talenten auch gleichsam das Beispiel eines Gesetzes vor (ihr durch Übung hierin ähnlich zu werden), und das macht unsere Achtung aus. Alles moralische so genannte Interesse besteht lediglich in der Achtung fürs Gesetz.
Achtung – so erfahren wir an dieser Stelle einleitend – besteht aus einem Gefühl. Dieses Gefühl unterscheidet sich aber von den bereits skizzierten, allein neigungsbedingten oder interessegeleiteten Gefühlen dadurch, dass es ein vernunftgewirktes Gefühl darstellt. Von zentraler Bedeutung für Kants Theorie ist die folgende Feststellung: ‚Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche bloß das Bewusstsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze ohne Vermittlung anderer Einflüsse auf meinen Sinn bedeutet’. Die Erkenntnis des Sittengesetzes wird Kant zufolge durch das Gefühl der Achtung geleistet, denn Achtung wird an dieser Stelle als der Modus des epistemischen Zugangs zu dieser Erkenntnis3 (‚erkenne ich mit Achtung’) ausgezeichnet. Diese Erkenntnis des Sittengesetzes durch das Gefühl der Achtung ist unmittelbar, d.h. ohne weitere Vermittlung oder gar Argumentation evident. Dieser Begriff einer
3 Auf diesen Umstand hat meines Wissens in umfangreicher Form das erste Mal Schönecker hingewiesen (2013).
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Das unmittelbare Bewusstsein des Sittengesetzes
unmittelbaren Erkenntnis des Sittengesetzes spielt in Kants Theorie des Faktums der Vernunft der KpV (KpV, V, 115.27-33) eine entscheidende Rolle4:
Nun ist das Bewußtsein einer Bestimmung des Begehrungsvermögens immer der Grund eines Wohlgefallens an der Handlung, die dadurch hervorgebracht wird; aber diese Lust, dieses Wohlgefallen an sich selbst, ist nicht der Bestimmungsgrund der Handlung, sondern die Bestimmung des Willens unmittelbar, blos durch die Vernunft, ist der Grund des Gefühls der Lust, und jene bleibt eine reine praktische, nicht ästhetische Bestimmung des Begehrungsvermögens.
Das Gefühl der Achtung selbst darf nicht der Bestimmungsgrund der Handlung sein, wenngleich dieses Gefühl die Bestimmung des Willens durch die Vernunft begleitet. Diese praktische Lust, das Gefühl der Achtung, „ist unzertrennlich mit der Vorstellung des moralischen Gesetzes in jedem endlichen vernünftigen Wesen verbunden“ (KpV, V, 80.6- 7). Ich kann an dieser Stelle (unabhängig davon, in welchen anderen Hinsichten sich Kants Theorie der Achtung in der GMS und KpV voneinander unterscheiden) keine Differenz zwischen der Funktion der Achtung in der GMS und KpV erkennen. Schon in der GMS geht Kant davon aus, dass die Erkenntnis des Sittengesetzes durch die Achtung unmittelbar gegeben ist, d.h. das Sittengesetz ist nicht in irgendeiner Weise fragwürdig und damit Gegenstand eines tatsächlichen Verdachts5, dass es sich bei dieser Handlungsbestimmung um ein „Hirngespinst“ (vgl. z.B. GMS IV, 445.8) handeln könnte. Das Sittengesetz geht den Menschen hingegen „unmittelbar und kategorisch“ (GMS IV, 457.35-36) an. In der Fußnote auf S. 401 geht Kant sogar soweit zu sagen, dass die ‚unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben Achtung heißt’. Achtung ist also auch hier nicht eine bloß motivationale Kraft, sondern sie leistet die unmittelbare und unleugbare Erkenntnis des Sittengesetzes. Wichtig ist diese lange Fußnote auch vor allem deshalb, weil Kant an dieser Stelle den Terminus Achtung mit dem Begriff des moralischen Interesses synonym setzt: Alles moralische Interesse bestehe (wenn es tatsächlich ein reines moralisches Interesse darstellt) in der Achtung. In GMS III bezieht sich Kant dann auf den Begriff der Achtung in erster Linie durch den Ausdruck
‚moralisches Interesse’.
4 Der Begriff der unmittelbaren und nicht in irgendeiner Weise vermittelten Geltung des Sittengesetzes wird in der KpV noch wesentlich häufiger verwendet als in der GMS (vgl. KpV, V, 25.7, KpV, V, 29.34, KpV, V, 71.29, KpV, V, 46.35, KpV, V, 78.23, KpV, V, 132.10,
5 Dieser Verdacht ist in GMS III lediglich ein rhetorisches Stilmittel (vgl. Puls 2016, 88 und 232).
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Drei Einsichten können aus der Betrachtung von Kants Begriff und Verwendung des Begriffs Achtung bisher gewonnen werden:
Durch Achtung erkennt der Mensch die Geltung des Sittengesetzes.
Die durch die Achtung erkannte Geltung des Sittengesetzes ist eine unmittelbare Erkenntnis, welche keiner weiteren Begründung zugänglich ist und nicht angezweifelt werden kann.
Der Begriff der Achtung stellt ein Synonym für den Begriff des moralischen Interesses dar und umgekehrt.
III.
Alles sogenannte moralische Interesse6 besteht der FN auf 401 zufolge lediglich in der Achtung für das Sittengesetz, d.h. wir dürfen davon ausgehen, dass Kant in der zentralen dritten Sektion von GMS III, wenn er auf ein bestimmtes, nicht auf ein neigungsbasiertes Interesse zu reduzierendes Interesse abhebt, das Gefühl der Achtung im Sinn hat. Er widmet dem moralischen Interesse an dieser Stelle mehr als anderthalb Seiten (vgl. 449.7- 36 – 450.1-17). Bereits diese umfangreiche Behandlung des Interesses deutet darauf hin, dass es sich dabei um keine Nebensächlichkeit handeln kann. 7 In der dritten Sektion müsste sich nun eine Erklärung finden, inwiefern ihr zentraler Aspekt mit der Frage nach einem (moralischen) Interesse, welches ‚den Ideen der Sittlichkeit anhängt’, verbunden ist und was sich genau hinter diesem Zusammenhang verbirgt.
Die Frage ist hier folgende: Wie ist es möglich, dass der Mensch als sinnlich vernünftiges Wesen seine Maximen so auswählt, dass er dabei nicht sinnlichen Inklinationen, wie etwa seinen Begierden, folgt, sondern so, dass er damit einem allgemeinnachvollziehbaren Gesetz folgt?
6 Für eine umfangreiche Interpretation des moralischen Interesses siehe Puls (2016, 72-176). Kapitel II dieses Aufsatzes stellt eine Zusammenfassung des dortigen Ansatzes dar. Im vorliegenden Aufsatz gehe ich allerdings deutlicher auf die Synonymie von Achtung und moralischem Interesse ein.
7 In der Regel wird in der Literatur überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, dass das moralische Interesse im Mittelpunkt der dritten Sektion steht, und aus diesem Grund wird auch die Sinnhaftigkeit von Kants Überschrift zu dritten Sektion (‚Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt’) in Frage gestellt. Allison (2011, 301) schreibt beispielsweise: „This is misleading because the focal point of this section is not the concept of a pure moral interest, but an apparent circle, which Kant believes can only be avoided by introducing the idea of an intelligible world“.
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Das unmittelbare Bewusstsein des Sittengesetzes
Kant deutet die Antwort auf diese Frage mit dem Hinweis auf ein mögliches Bewusstsein der Autonomie und damit einem Bewusstsein des Sittengesetzes in 449.7-8 schon an: Der sinnlich vernünftige Mensch, aus dessen Freiheit – anders als es bei rein vernünftigen Wesen der Fall ist – die Sittlichkeit nicht eo ipso folgt, müsste ein Bewusstsein seiner sittlichen Autonomie haben und damit über ein Vermögen verfügen, den kategorischen Imperativ zu erkennen. Er müsste über eben jenes in 449.8-9 thematisierte und hier noch bloß als Idee gedachte ‚Bewußtsein eines Gesetzes zu handeln’ verfügen. Kants Lösung dieses Problems kündigt sich bereits direkt in der Frage an (449.11-22), warum der Mensch sich dem Sittengesetz in Form des kategorischen Imperativs unterwerfen soll.
Warum aber soll ich mich denn diesem Princip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle andere mit Vernunft begabte Wesen? Ich will einräumen, daß mich hiezu kein Interesse treibt, denn das würde keinen kategorischen Imperativ geben; aber ich muß doch hieran nothwendig ein Interesse nehmen und einsehen, wie das zugeht; denn dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen, das unter der Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre; für Wesen, die wie wir noch durch Sinnlichkeit als Triebfedern anderer Art afficirt werden, bei denen es nicht immer geschieht, was die Vernunft für sich allein thun würde, heißt jene Nothwendigkeit der Handlung nur ein Sollen, und die subjective Nothwendigkeit wird von der objectiven unterschieden.
Mit ‚diesem Princip’ ist hier das bereits in 440.14-15 angeführte und in 447.1-7 / 449.7- 13 erneut angesprochene ‚Prinzip der Autonomie als oberstem Prinzip der Sittlichkeit’ gemeint. Es besteht darin, nicht „anders zu wollen, als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz begriffen sei“ (440.18-21). Hier ist eindeutig vom Willen eines sinnlich-vernünftigen Wesens wie dem Menschen die Rede, denn Kant spricht von einer Unterwerfung unter das Prinzip der Sittlichkeit, und unterwerfen können sich nur Wesen, für die das sittliche Gesetz nicht eine Notwendigkeit darstellt, sondern eine Nötigung. Die zweite Passage in 449.11-22 ist auf den ersten Blick missverständlich, weil Kant von einem ‚vernünftigen Wesen überhaupt’ und von allen anderen mit ‚Vernunft begabten Wesen’ spricht. Dies könnte den Eindruck erwecken, als ständen hier wieder allein rein vernünftige Wesen im Blick und nicht der Menschen als sinnlich-vernünftiges Wesen. Der Rest der Passage und auch die Formulierung ‚mit Vernunft begabte Wesen’ machen aber deutlich, dass in diesem Abschnitt nicht weiterhin ein solch bloß abstrakt gedachtes Vernunftwesen analysiert
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wird, sondern ein sinnlich-vernünftiges Wesen wie der Mensch. Der Absatz zwischen
449.6 und 449.7 leitet also einen Übergang ein zwischen der rein analytischen Begriffszergliederung der ‚Metaphysik der Sitten’ und einer Analyse des Subjekts in Form einer ‚Kritik der reinen praktischen Vernunft’. Dass
der Wille jedes vernünftigen Wesens an sie als Bedingung nothwendig gebunden sei, kann durch bloße Zergliederung der in ihm vorkommenden Begriffe nicht bewiesen werden, weil es ein synthetischer Satz ist; man müßte über die Erkenntniß der Objecte und zu einer Kritik des Subjects, d. i. der reinen praktischen Vernunft, hinausgehen [...]“ (440.21-26).
Dies hatte Kant bereits im zweiten Abschnitt der GMS festgestellt, und dieser Kritik des Subjekts wendet er sich nun im Folgenden zu. Eine Antwort auf Frage, wie die Nötigung eines sinnlich-vernünftigen Wesens möglich ist, kann man eben nicht dadurch erlangen, dass eine Analyse der logischen Implikationen des Begriffs eines vernünftigen Wesens überhaupt durchgeführt wird, sondern allein durch eine Kritik der praktischen Vernunft des Menschen selbst.
Die Frage ‚Warum soll ich mich diesem Prinzip unterwerfen?’ gibt Anlass zu Missverständnissen, lässt sich doch eine andere Antwort erwarten, als Kant sie dann tatsächlich gibt. Diese Frage könnte nämlich bedeuten: Warum soll ich moralisch sein? Damit wäre nicht nur danach gefragt, wie eine intelligible Nötigung eines nicht rein- vernünftigen Wesens expliziert werden kann, sondern auch, warum ein Subjekt das tun soll, was es als ein moralisches Gebot erfährt.
Eine solche Deutung schlägt z.B. Dieter Schönecker vor. Er weist zu Recht auf die großen Interpretationsschwierigkeiten hin, die vor allem mit dem Satz ‚[A]ber ich muss doch hieran notwendig ein Interesse nehmen und einsehen, wie das zugeht’ (449.15) verbunden sind. Schönecker schreibt, dass Kant mit diesem Satz und der Überschrift zur dritten Sektion unmöglich gemeint haben könne, „man müsse <einsehen < , <wie < der Mensch am moralischen Gesetz ein Interesse nehmen kann, oder anders gefragt, wie eine rein moralische Motivation möglich ist“ (Schönecker 1999, 323). Schönecker begründet diese Einschätzung mit Kants Feststellung in Sektion 5: ‚Die Subjektive Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu erklären, ist mit der Unmöglichkeit, ein Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könnte, einerlei’ (459.32) sowie mit dem Schluss im selben Abschnitt: ‚[...] so ist die
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Das unmittelbare Bewusstsein des Sittengesetzes
Erklärung, wie und warum uns die Allgemeinheit der Maxime als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit interessiere, uns Menschen gänzlich unmöglich’ (460.22). Die Frage nach der Einsicht, wie es zugeht, dass der Mensch ein Interesse am moralischen Gesetz hat, kann Schönecker zufolge sinnvoll nur durch die Beantwortung der Frage aufgeklärt werden, warum „die Vernunft praktisch werden <muß <“ (Schönecker 1999, 323). Laut Schönecker muss also nicht beantwortet werden, wie es zugeht, dass der Mensch ein moralisches Interesse hat, sondern wie es sein kann, dass „der Mensch aus Achtung fürs Gesetz handeln muß [...]“ (Schönecker 1999, 323, Hervorh. v. Vf.). Schönecker schlägt vor, das ‚Muss’ in 449.15 durch ein ‚Soll’ zu ersetzen. Damit stellt sich die Frage:
‚Warum soll ich am KI ein Interesse nehmen?’, d.h. ‚Warum soll ich moralisch handeln?’ Kants Begründung des Satzes ‚[A]ber ich muß [oder nach Schönecker: soll] doch hieran notwendig ein Interesse nehmen und einsehen, wie das zugeht’ findet sich Schöenckers Interpretation zufolge in dem Satz: ‚[D]enn dieses Wollen ist eigentlich ein Sollen’. Ich soll mich dem Gesetz unterwerfen, weil dieses etwas von mir fordert, was ich eigentlich als intelligibles Wesen selbst will (vgl. Schönecker 1999, 329).
Man kann der Passage in 449.7-22 aber auch eine weniger anspruchsvolle Absicht unterstellen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass 449.7-36–450.1.17 durch die eigenartige Vermengung von in immer neuen Wendungen wiederholten, scheinbar unterschiedlichen Fragen schwer zu interpretieren ist. Diesem Geflecht könnte man sowohl die Frage entnehmen, warum (vgl. 449.11, 449.32) das Sittengesetz gilt bzw. warum ich ihm folgen soll, als auch die Fragen, worauf (vgl.449.33) es sich gründet, wie (vgl. 449.35, 450.15) es gilt und woher (vgl. 450.16) diese Geltung kommt.
Kants erste Warum-Frage (449.11) legt auf den ersten Blick tatsächlich nahe, es ginge bei ihrer Beantwortung um einen Grund, warum der Mensch moralisch sein soll (‚Warum aber soll ich mich diesem Princip unterwerfen?’). Genauer betrachtet, passt eine solche Frage aber nicht zu Kants Antwort in 449.13-36–4450.1-17, denn diese sagt eher etwas darüber aus, auf welche Weise es möglich ist, dass der Mensch sich dem ‚Prinzip’ der Sittlichkeit unterwirft.
Das Adverb ‚hierzu’ (449.14) in dem Satz ‚Ich will einräumen, dass mich hierzu kein Interesse treibt’, mit dem Kant auf seine Warum-Frage antwortet, bezieht sich auf das in der Warum-Frage genannte ‚Unterwerfen unter das Autonomieprinzip’. Im Satz nach dem Semikolon findet sich ebenfalls eine adverbiale Bestimmung, und zwar das Adverb
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‚hieran’: ‚aber ich muss doch hieran notwendig ein Interesse nehmen und einsehen, wie das zugeht’ (Hervorh. v. Vf.). Schönecker liest den Satz in 449.13-16 nun so, dass sich zwar das ‚Hieran’ (wie zuvor das ‚Hierzu’) noch auf das ‚Unterwerfen unter das Autonomieprinzip’ bezieht, das ‚Das’ in 449.16 im Satz nach dem Komma aber nicht mehr. Schönecker zufolge – und daraus ergibt sich für ihn ein Interpretationsproblem – bezieht sich Kant mit ‚einsehen, wie das zugeht’ (Hervorh. V. Vf.) nicht mehr auf das
‚Unterwerfen unter das Autonomieprinzip’, sondern auf das ‚Interesse nehmen’. In Gegensatz dazu ist es aber nicht unplausibel und sogar – wie wir gleich sehen werden – sinnvoller, das ‚Das’ in der Formulierung ‚einsehen, wie das zugeht’ ebenso wie zuvor die beiden Adverbien ‚hierzu’ und ‚hieran’ 8 auf das ‚Unterwerfen unter das Autonomieprinzip’ zu beziehen. Nicht wie das moralische Interessenehmen zugeht (denn so etwas ist Kant zufolge nicht möglich“)) ist Kant zufolge, wie Schönecker zu Recht feststellt, nicht möglich), sondern wie es zugeht, dass wir uns dem Autonomieprinzip und dem darin enthaltenen Sittengesetz unterwerfen, ist an dieser Stelle gemeint. Das
‚Interessenehmen’ in 449.16 stellt einen praktischen Modus des ‚Einsehens’ dar, wie es zugeht, dass ich mich dem Sittengesetz unterwerfe. Die Ausdrücke ‚ein Interesse nehmen’ und ‚Einsehen, wie das zugeht’ lassen sich nämlich durchaus als eine sachliche Einheit auffassen, denn das ‚Interesse nehmen’ leistet einen Beitrag zur Einsicht, wie es zugeht, dass der Mensch sich dem Moralgesetz unterwirft. Diese Deutung passt auf jeden Fall in den Kontext des ersten Satzes dieses Absatzes: ‚Es floß aber aus diesen Ideen auch das Bewusstsein (fehlt hier etwas? „entsprechend“?) eines Gesetzes zu handeln’ (449.7- 8). Wenn wir Freiheit und Autonomie in der Idee vorraussetzen, dann muss Kants Überlegungen in der ersten und zu Beginn der dritten Sektion zufolge damit auch die Idee des Bewusstseins eines Handlungsgesetzes verbunden sein. Doch worin könnte ein solches Bewusstsein – das ist hier unter der Hand die Frage – in Hinblick auf den Menschen als sinnlich-vernünftigem Wesen bestehen? Wie ließe sich angesichts motivationsempiristischer (empiristisch? Nicht empirisch?) Theorien und angesichts eines moralischen Reduktionismus, der bei allen Handlungen grundsätzlich ein
8 Man könnte das ‚Hieran’ anders als das ‚Hierzu’ auch auf das Autonomieprinzip selbst beziehen, allerdings würde das nur schlecht zum Fortgang des Satzes passen, denn dann würde Kant schreiben: ‚Ich muss am Autonomieprinzip ein Interesse nehmen und einsehen, wie das (das Autonomieprinzip) zugeht’. Nicht ‚wie das Autonomieprinzip’ ‚zugeht’, sondern wie die ‚Unterwerfung’ unter dieses Prinzip zugeht, steht aber im Mittelpunkt des Satzes.
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Das unmittelbare Bewusstsein des Sittengesetzes
heteronomes Eigeninteresse des Menschen unterstellt, eine Anerkennung als Form eines Bewusstseins eines intelligiblen Gesetzes denken? Wie ‚geht es zu’, dass der Mensch sich dem Sittengesetz unterwirft und überhaupt empfänglich für das darin enthaltene Sollen ist? Was kann das für ein Bewusstsein sein, das einen intelligiblen Aspekt hat, gleichzeitig aber eine Verbindung zu einem sinnlichen Aspekt im Menschen aufweist?
Es geht an dieser Stelle also (zunächst) nicht um das metaethische Problem Warum soll ich mich moralisch verhalten?, also um die Frage, warum ich mich dem als sittliches Gebot Erfahrenen als einem Modus von Handlungsbestimmungen in Konkurrenz zu anderen Bestimmungen tatsächlich unterwerfen soll. Das Problem besteht vielmehr darin, begreiflich zu machen, wie es überhaupt möglich ist, dass ich mich als Adressat eines solchen moralischen Gebots begreife. Diese Frage hat einen motivationalen und auch einen moralepistemologischen Aspekt.
Der Satz ‚Warum aber soll ich mich diesem Princip unterwerfen’ fragt nicht nach externen Gründen dafür, moralisch zu sein, sondern danach, wie Sittlichkeit im Menschen Geltung erlangen kann. Kant antwortet auf seine Frage deswegen auch nicht mit der Nennung eines Grundes, d.h. mit einem ‚Darum’, sondern mit einem ‚Wie’, und zwar wie eine Unterwerfung zugeht (449.16, vgl. später 449.35-36, 450.15). Man muss nur - ebenso wie die zwei adverbialen Bestimmungen ‚hierzu’ und ‚hieran’ – das ‚Das’ in
449.16 auf das ‚Unterwerfen unter das Autonomieprinzip’ beziehen, und der Absatz 449.7-22 gewinnt einen ganz anderen Sinn, als die einleitende ‚Warum-Frage’ (als eine Frage scheinbar nach Gründen) nahelegen könnte: Der Mensch als sinnlich-vernünftiges Wesen kann als ein durch das Sittengesetz genötigtes Wesen gedacht werden, weil er ein Interesse daran nehmen kann, diesem Gesetz zu folgen. Das Interessenehmen ist ein Schritt, einsehbar zu machen, wie es zugeht, dass der Mensch sich dem Autonomieprinzip unterwirft. Die Einsicht in die Unterwerfung unter das Sittengesetz ist für das Selbstverständnis des Menschen von Bedeutung (er muss daran natürlicherweise ein Interesse haben), weil das darin thematisierte Sollen ja eigentlich auch ein Wollen des Menschen ist. Der Mensch als ein zugleich sinnlich und vernünftig wollendes Wesen hat selbstverständlich nicht nur ein Interesse an dem, was er aufgrund seiner Sinnlichkeit will, sondern auch an dem, was er vernünftigerweise will. Während aber die Tatsache unmittelbar evident ist, dass uns das notwendig interessiert, was wir qua Sinnlichkeit
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wollen, ist uns offenbar das Interesse an dem, was wir vernünftigerweise wollen, nicht mit derselben Unmittelbarkeit zugänglich.
Im Anschluss an den ersten Hinweis auf die Funktion des moralischen Interesses klingt in 449.24-36 – 450.1-2 zum ersten Mal der Verdacht eines Zirkels an.
Es scheint also, als setzten wir in der Idee der Freiheit eigentlich das moralische Gesetz, nämlich das Princip der Autonomie des Willens selbst, nur voraus und könnten seine Realität und objective Nothwendigkeit nicht für sich beweisen, und da hätten wir zwar noch immer etwas ganz Beträchtliches dadurch gewonnen, daß wir wenigstens das ächte Princip genauer, als wohl sonst geschehen, bestimmt hätten, in Ansehung seiner Gültigkeit aber und der praktischen Nothwendigkeit, sich ihm zu unterwerfen, wären wir um nichts weiter gekommen; denn wir könnten dem, der uns fragte, warum denn die Allgemeingültigkeit unserer Maxime, als eines Gesetzes, die einschränkende Bedingung unserer Handlungen sein müsse, und worauf wir den Werth gründen, den wir dieser Art zu handeln beilegen, der so groß sein soll, daß es überall kein höheres Interesse geben kann, und wie es zugehe, daß der Mensch dadurch allein seinen persönlichen Werth zu fühlen glaubt, gegen den der eines angenehmen oder unangenehmen Zustandes für nichts zu halten sei, keine genugthuende Antwort geben.
Das ‚Also’ im ersten Satz dieses Abschnitts deutet an, dass Kant ein Resümee aus dem vorrangegangen Abschnitt zieht. In 448.25-27 – 449.1-6 hatte er die Ergebnisse der ersten und zweiten Sektion zusammengefasst und dann in 449.7-22 auf die Idee eines Bewusstseins eines moralischen Handlungsgesetzes, das mit den Ideen der Freiheit und Autonomie verknüpft sein soll (bzw. aus diesen ‚fließt’), sowie auf den Begriff des (moralischen) Interesses verwiesen. Die Begriffsanalyse der Sektion 1 und 2 hat lediglich gezeigt, dass sich der Begriff der Autonomie aus der Freiheit eines rein vernünftigen Wesens analytisch schließen lässt, und dass ein solches Wesen auch ein Bewusstsein dieser Autonomie haben müsste. Schon in dieser den Zirkel vorausnehmenden Stelle nimmt Kant
– wie später bei der Formulierung des Zirkelverdachts auch – eine Relativierung vor: Es scheint nur so zu sein, dass wir in der Idee der Freiheit eigentlich das moralische Gesetz nur voraussetzen und seine objektive Realität und Gültigkeit nicht beweisen könnten. Dieser Anschein ist in gewisser Weise von Kant aus dramaturgischen Gründen künstlich erzeugt, denn er könnte nur entstehen und liegt nicht in Kants bisheriger Argumentation, wenn man bei der Explikation bloß begrifflicher Verhältnisse, der „bloße[n] Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit“ (440.22-23), stehen bliebe – was erklärtermaßen nicht Kants
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Absicht ist. Der für Kant in Sektion 3 anscheinend zentrale Begriff des Interesses, der zur Aufklärung der Frage beiträgt, wie eine moralische Verbindlichkeit/Nötigung/Geltung für ein sinnlich-vernünftiges Wesen überhaupt möglich ist, wurde in diesem rein begriffsanalytischen Zusammenhang noch nicht untersucht. Deswegen weist Kant an dieser Stelle auf den Umstand hin, es könnte so scheinen, als ob wir im Begriff der Freiheit die Autonomie und damit das moralische Gesetz nur voraussetzen.
Wir könnten es aber – unabhängig vom Erfolg der Zergliederung des Begriffs der Sittlichkeit und eines Nachweises der Freiheit – nicht ‚für sich beweisen’. Allerdings haben wir durch die Begriffszergliederung etwas ‚Beträchtliches’ gewonnen. Wir verfügen dadurch bereits über eine in Kants Augen begrifflich stimmige Analyse der Sittlichkeit und der mit ihr notwendigerweise verbundenen Begriffe. Es ist dadurch möglich, das für Kant
‚ächte Princip, genauer als wohl sonst geschehen’ zu bestimmen. Allerdings wissen wir dadurch nichts über die ‚Realität’ und ‚objective Notwendigkeit’ des moralischen Gesetzes als Prinzips der Autonomie. Einem Nachweis von dessen ‚Gültigkeit’ sowie der
‚praktischen Notwendigkeit’ eines sinnlich-vernünftigen Wesens wie dem Menschen, sich dem moralischen Gesetz zu unterwerfen, kommt man durch die reine Begriffsanalyse nicht näher. An dieser Stelle verwendet Kant insgesamt vier verschiedene Begriffe zur Charakterisierung dessen, was als Desiderat noch aussteht: die ‚Realität’ (449.26),
‚objektive Notwendigkeit’ (449.26), ‚Gültigkeit’ (449.29) und ‚praktische Notwendigkeit’ (449.30) des moralischen Gesetzes sind noch nicht bewiesen oder gezeigt.
Was ist mit diesen Begriffen gemeint? Die Struktur des Abschnittes 450.24-31 legt nahe, dass die ‚Gültigkeit’ und die ‚praktische Notwendigkeit’ einen ähnlichen Sinn haben wie die ‚Realität’ und die ‚objektive Notwendigkeit’. Kant schreibt, dass wir im Begriff der Freiheit vielleicht das sittliche Gesetz bloß voraussetzen, aber dessen ‚Realität’ und
‚objektive’ Notwendigkeit nicht ‚für sich’ beweisen könnten. Dann folgt ein Einschub (449.27-29), in dem er erklärt, dass wir durch die analytische Begriffsbestimmung zwar das Prinzip der Moral genauer bestimmt hätten, dadurch aber die ‚Gültigkeit’ und
‚praktische Notwendigkeit’ nicht erwiesen sei. Da der Einschub keinen Bezug auf die
‚Realität’ und ‚objektive Notwendigkeit’ nimmt, wäre es seltsam, wenn Kant dann mit seinem wiederholten Bezug auf das, was noch nicht gezeigt oder bewiesen wurde, etwas von der ‚Realität’ und ‚objektiven Notwendigkeit’ noch Unterschiedenes meint. Das zeigt sich auch bei dem Vergleich der Begriffe ‚objektive Nothwendigkeit’ und ‚practische
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Nothwendigkeit’. Diese Begriffe sind in der Tat deckungsgleich. Unter einer objektiven Notwendigkeit versteht Kant den Umstand, dass wir zu einer Handlung nicht aufgrund subjektiver Zwecke genötigt werden. Die Nötigung findet vielmehr auf eine für alle vernünftigen Subjektive gültige, d.h. allgemeinverbindliche Weise statt (Vgl. 439.33-34:
„Die objective Nothwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht“). Verpflichtet sind sinnlich-vernünftige Wesen. Für sie ist die moralische Notwendigkeit eine objektive Notwendigkeit. Wären sie rein vernünftige Wesen, wäre diese Notwendigkeit nur subjektiv (vgl. 449.19-22). Eine solche vom Sittengesetz geforderte Handlung ist für alle Subjekte unabhängig von bestimmten Einzelinteressen verbindlich. Diese objektive Notwendigkeit einer Handlung ist aber natürlich auch eine praktische Notwendigkeit (denn sie ist ja keine theoretische Notwendigkeit). Für Kant beruht jedes echte Moralprinzip auf der „unbedingte[n] practische[n] Nothwendigkeit“ (11:154), wodurch es sich von allen anderen praktischen Prinzipien unterscheidet. Auch die im letzten Satz angeführte ‚Unbedingheit’ des Sittengesetzes wäre neben der Objektivität ein weiteres Attribut desselben. Die ‚objective Nothwendigkeit’ ist also auch eine ‚practische Nothwendigkeit’. Kant benutzt diesen Ausdruck sogar explizit, wenn er von der
„[o]bjectiven [p]ractischen Nothwendigkeit“ (23: 156) spricht. Die ‚objective Nothwendigkeit’ ist damit als ein Aspekt der ‚practischen Nothwendigkeit’ zu verstehen (ebenso wie z.B. die ‚unbedingte Nothwendigkeit’). Kant verfolgt also mit der Nennung einer ‚practischen’ und ‚objektiven’ Notwendigkeit keine weiteren argumentativen Absichten. Er hätte an dieser Stelle auch bloß von einer ‚praktischen Notwendigkeit’ sprechen können. Wir setzen Kant zufolge also die praktische Notwendigkeit, die mit den Forderungen des Sittengesetzes verbunden sind, in der Idee der Freiheit bloß voraus. Auch die laut Kant noch in Frage stehende ‚Realität’ des Sittengesetzes ist kein sehr enger oder exklusiver Terminus. Kant fasst diese ‚Realität’ an anderer Stelle auch als ‚Wirklichkeit’ (406.15, 420.01), als ‚Richtigkeit’ (392.13) oder eben als ‚Geltung’ (461.3) auf.
Die Frage nach der noch nicht erwiesenen ‚Gültigkeit’ (449.23) lässt wieder sehr stark an die Frage nach einem Grund denken. Eine solche Annahme (welche?) ist aber nur dann zwingend, wenn man den Sprachgebrauch zu Kants Zeit (und Kants Gebrauch dieser Terminologie selbst) außer Acht lässt und unter ‚Gültigkeit’ eine philosophische, objektive Gültigkeit, d.h. einen logischen oder argumentativen Beweis für das moralische Gesetz, das Prinzip der Autonomie oder den kategorischen Imperativ, versteht. Die beiden
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Substantive ‚Geltung’ und ‚Gültigkeit’ wurden aber zur Zeit Kants und bis ins 19. Jahrhundert noch im Sinn einer doxastischen, subjektiven Geltung verwendet. Die Frage nach einer ‚Gültigkeit’ kann auch verstanden werden als Frage nach der ‚Akzeptanz’ oder
‚Anerkennung’ – sie muss also nicht als Frage nach einer diskursiven moralexternen Begründung aufgefasst werden. In genau einem solchen Sinn spricht Kant z.B. in 424.33- 37 (Hervorh. V. Vf.) davon, dass wir „die Gültigkeit des kategorischen Imperativs wirklich anerkennen und uns (mit aller Achtung für denselben) nur einige, wie es uns scheint, unerhebliche und uns abgedrungene Ausnahmen erlauben“. Kant bringt terminologisch die
‚Gültigkeit’ des kategorischen Imperativs an dieser Stelle nicht mit der möglichen Frage nach seiner metaethischen Begründbarkeit in Zusammenhang (sondern explizit mit dem Begriff der ‚Anerkennung’). Er weist auch indirekt darauf hin, womit oder wodurch diese Anerkennung, erfolgt: mit oder durch die Achtung, (‚trotz derer, wir uns einige
‚unerhebliche und uns abgedrungene Ausnahmen erlauben’). Während wir heute im Kontext der eben zitierten Stelle eher von der ‚Geltung’ des kategorischen Imperativs sprechen würden, verwendet Kant den damals gleichbedeutenden Begriff der ‚Gültigkeit’. Vor diesem Hintergrund lässt sich aufklären, warum Kant in 449.29 nach der Gültigkeit des kategorischen Imperativs fragt, aber in seiner skizzierten Antwort darstellt, wie es zugeht, dass der Mensch sich diesem Imperativ unterwirft bzw. er diesen ‚anerkennt’.
Von großer Bedeutung für das Verständnis des Abschnitts 449.7-36 und die gesamte Hinleitung zum Zirkelverdacht ist die Begründung, die sich an Kants Feststellung anschließt, dass die Geltung des Sittengesetzes noch nicht bewiesen sei. Wir können bis zum jetzigen Stand der Argumentation die praktische Notwendigkeit und Geltung des Sittengesetzes noch nicht ‚für sich’ (vgl. 449.27) beweisen, und wir sind in Hinblick auf diese Notwendigkeit und Geltung ‚um nichts weiter gekommen’, denn
wir könnten dem, der uns fragte, warum denn die Allgemeingültigkeit unserer Maxime, als eines Gesetzes, die einschränkende Bedingung unserer Handlungen sein müsse, und worauf wir den Werth gründen, den wir dieser Art zu handeln beilegen, der so groß sein soll, daß es überall kein höheres Interesse geben kann, und wie es zugehe, daß der Mensch dadurch allein seinen persönlichen Werth zu fühlen glaubt, gegen den der eines angenehmen oder unangenehmen Zustandes für nichts zu halten sei, keine genugthuende Antwort geben.
Wenn wir ‚dem, der uns fragte’ eine befriedigende Antwort geben könnten, warum die Allgemeingültigkeit eines Gesetzes die einschränkende Bedingung unserer Handlungen sein müsse, worauf wir den Wert gründen, den wir einem solchen Handeln beimessen und
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wie es zugeht, dass der Mensch dadurch allein seinen persönlichen Wert fühlt, dann wären die Kant zufolge noch ausstehenden Explikationen erbracht. Dann könnten wir das Prinzip der Autonomie ‚für sich beweisen’ (vgl. 449.27) und wären tatsächlich ‚weiter gekommen’ (449.31). Auch in diesem Absatz ist Kant weit davon entfernt, auf einen metaethischen Grund dafür zu verweisen, warum wir moralisch handeln sollen. Seine Skizze einer möglichen Antwort – oder besser gesagt, seine implizite Antwort – ist eine Antwort auf die Frage, wie es zugeht, dass wir der ‚Allgemeingültigkeit unserer Maxime’ und den daraus folgenden Handlungen einen so großen Wert beimessen, dass es keinen höheren Wert für den Menschen gibt und dass er dadurch allein im Sinne einer Selbstachtung seinen
‚persönlichen Wert zu fühlen glaubt’ (vgl. 450.1, Hervorh. v. Vf.). Auf die Frage, wie das
‚zugehe’ (449.16), haben wir Kant zufolge – und damit wiederholt er mit anderen Worten seine Einschätzung aus 449.7-22 – noch keine vollständige Antwort. Kant äußert sich in dieser Passage aber schon etwas genauer zu dem zumindest in Sektion 3 im Dunkeln gelassenen ‚Interesse’, das er in 449.15-16 eingeführt hat, und das mit der Beantwortung dieser Frage zusammenhängt. Dieses Interesse ist das höchste Interesse, und der Mensch müsste dadurch allein seinen persönlichen Wert fühlen. Kant grenzt das Interesse, das jetzt im Mittelpunkt stehen soll, damit noch einmal von dem Interesse ab, das der Mensch aus sinnlichen oder pragmatischen Gründen an bestimmten Gegenständen oder Zuständen nehmen kann. Dieses Interesse darf kein Interesse sein, das uns durch eine treibende Kraft (vgl. 449.14) bestimmt, und es soll von allerhöchstem Wert für das Subjekt sein. Wir fühlen durch dieses Interesse einen persönlichen Wert, d.h. wir haben in einer bestimmten Perspektive Achtung vor einem bestimmten Aspekt in uns selbst.
Auch Kants weiteren Bemerkungen (450.3-17) vor dem Hinweis auf den Zirkelverdacht kreisen um den Begriff dieses Interesses:
Zwar finden wir wohl, daß wir an einer persönlichen Beschaffenheit ein Interesse nehmen können, die gar kein Interesse des Zustandes bei sich führt, wenn jene uns nur fähig macht, des letzteren theilhaftig zu werden, im Falle die Vernunft die Austheilung desselben bewirken sollte, d. i. daß die bloße Würdigkeit, glücklich zu sein, auch ohne den Bewegungsgrund, dieser Glückseligkeit theilhaftig zu werden, für sich interessiren könne: aber dieses Urtheil ist in der That nur die Wirkung von der schon vorausgesetzten Wichtigkeit moralischer Gesetze (wenn wir uns durch die Idee der Freiheit von allem empirischen Interesse trennen); aber daß wir uns von diesem trennen, d. i. uns als frei im Handeln betrachten und so uns dennoch für gewissen Gesetzen unterworfen halten sollen, um einen Werth bloß in unserer Person zu finden, der uns allen Verlust dessen, was unserem
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Zustande einen Werth verschafft, vergüten könne, und wie dieses möglich sei, mithin woher das moralische Gesetz verbinde, können wir auf solche Art noch nicht einsehen.
Auch von einer im weiteren Sinne moralischen Form des Interessenehmens muss das gesuchte Interesse abgegrenzt werden: Die Würdigkeit, glücklich zu sein, könnte uns z.B. auch dann interessieren, wenn wir vielleicht gar nicht darauf spekulieren, dass wir der von einer vernünftigen Instanz proportional ausgeteilten Glückseligkeit auch tatsächlich teilhaftig werden. Ein solches Interesse wäre dann zwar eben nicht das zuvor ausgeschlossene sinnliche oder pragmatische Interesse, kein Interesse, dass uns in irgendeiner Form treibt, aber es wäre trotzdem nicht das hier gesuchte Interesse, weil es in gewisser Weise wieder ein (wenn auch auf höherer Stufe) konventionelles Interesse ist: ein Interesse, das wir nehmen, weil wir vorrausetzen, dass moralische Gesetze wichtig sind. Es ist also durchaus denkbar, dass wir ein Interesse nehmen, das unabhängig von jeder Sinnlichkeit oder Nützlichkeit ist. Dieses Interesse wäre dann nur Resultat ‚der schon vorausgesetzten Wichtigkeit moralischer Gesetze’. Nach dem Semikolon in 450.11 erfolgt dann wieder (wie in den beiden Abschnitten zuvor) die Nennung des Desiderats – und jetzt nicht nur die bekannte ‚Warum’-, ‚Worauf’ und ‚Wie’-Fragen, sondern auch noch eine
‚Woher’-Frage.
Es wird nicht ganz deutlich, worauf sich der Ausdruck ‚auf solche Art’ bezieht, denn Kant beschließt den Absatz (und vielleicht sogar die ganze Hinleitung zur Formulierung des Zirkelverdachts in 449.7-36 – 450.1-17) mit: ‚können wir auf solche Art nicht einsehen’. Man könnte zunächst denken, dass Kant sich damit auf die zu Beginn der dritten Sektion rekapitulierte Begriffszergliederung bezieht. Eine solche Deutung ist zwar möglich und würde auch Sinn ergeben, aber der Kontext des ganzen Abschnitts in 450.3-17 lässt nur die Annahme zu, dass sich Kant damit auf die ‚vorausgesetzte Wichtigkeit moralischer? Gesetze’ bezieht: Auch durch die Tatsache, dass wir vielleicht sogar ein Interesse am Sittengesetz nehmen (in Form z.B. des Interesses an der Glückswürdigkeit) und dass dieses Interesse dem Sittengesetz selbst gilt – und nicht unserer sinnlichen Natur oder pragmatischen Erwägungen –, würde uns dieses Interesse bei der Beantwortung der von Kant aufgeworfenen Frage nach der Möglichkeit sittlicher Geltung nicht helfen. Dadurch, dass wir ein Interesse an der Sittlichkeit haben, weil sie im Sinne einer konventionellen ethischen Annahme wichtig ist, können wir vermögenstheoretisch nicht beantworten, warum wir uns von allem empirischen Interesse trennen.
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Diese Annahme könnte nicht erklären, dass wir uns als frei im Handeln begreifen, obwohl wir wissen, dass wir auch unseren sinnlichen Neigungen unterworfen sind. Dieses konventionelle Interesse könnte auch nicht erklären, wie es zugeht, dass wir dadurch einen Wert, eine Selbstschätzung, d.h. Selbstachtung, in uns erfahren, die einen möglichen Verlust aller sinnlichen oder pragmatischen Vorteile ausgleichen soll, denen wir einen Wert beimessen. Dieses Interesse könnte nicht erklären, wie dieses ‚möglich sei’, mithin
‚woher das moralische Gesetz verbinde’. Kant knüpft also die Frage, wie es möglich sei, dass wir uns von allem empirischen Interesse trennen und den damit verbundenen Verlust an Annehmlichkeit oder Vorteil durch einen ‚Werth in unserer Person’ vergütet sehen, an die Frage, woher das moralische Gesetz verbindet – und damit an die Frage nach einer Ortsbestimmung.
Betrachtet man Kants Explikationen, Fragen und Antworten auf den gut anderthalb Seiten zwischen 449.7-36–450.1-17, die sich fraglos um die begriffliche und funktionale Bestimmung eines Interesses drehen, das der Mensch an der Befolgung des Sittengesetzes nehmen können soll, dann ist es mehr als erstaunlich, dass der Großteil der Kommentatoren dieser langen Passage keine Aufmerksamkeit geschenkt bzw. diese nur selektiv, d.h. nicht im Hinblick auf eben die Funktion dieses hier noch im Dunkeln gelassenen Interesses interpretiert hat.
Halten wir zwecks nochmaliger Verdeutlichung der Funktion dieses Interesses erneut Rückschau, wie und wofür Kant in diesem Abschnitt argumentiert. Er stellt zunächst fest (449.7-11), dass aus der Annahme der Idee der Freiheit und der sittlichen Autonomie auch der Gedanke, d.h. die Idee eines Bewusstseins des Handlungsgesetzes (‚Bewußtsein eines Gesetzes zu handeln’) floss. Der Mensch muss zu einem Gesetz, das er sich selbst gibt, in irgendeiner Weise einen epistemischen Zugang haben. Er kann nur ein Gesetz befolgen, dessen Gültigkeit und Notwendigkeit er als sinnliches Wesen auch einsehen und anerkennen kann. Ob es ein solches Bewusstsein gibt, wird hier nicht behauptet, nur dass sich die Notwendigkeit seiner Annahme ergibt, wenn wir die Begriffe der Freiheit und Autonomie zugrunde legen. Weil aber ein solches Bewusstsein hier noch nicht nachgewiesen wurde, fragt Kant zu Recht: ‚Warum aber soll ich mich diesem Princip [d.h. dem Prinzip der Autonomie und dem darin enthaltenen Sittengesetz, H.P.] unterwerfen?’ Diese ‚Warum-Frage’, die, wie wir gesehen haben, nicht nach einem Grund fragt, warum der Mensch moralisch sein soll, sondern wie (449.16) es zugeht, dass der Mensch sich
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überhaupt als Adressat eines moralischen Sollens begreift, bringt Kant in 449.15-16 zum ersten Mal mit dem Begriff des Interesses in einen Zusammenhang. Ebenso, wie ich an der Verwirklichung dessen ein Interesse nehmen muss, was ich z.B. aus pragmatischen oder sinnlichen Gründen will, muss ich auch ein Interesse an dem nehmen, was ich vernünftigerweise will. Der Sollensanspruch, der vom Sittengesetz ausgeht, ist in einer bestimmten Perspektive (meiner selbst als rein vernünftiges Wesen) ein Wollen. Dasjenige Interesse, das ‚einsehbar’ macht, wie es zugeht, dass der Mensch sich dem Sittengesetz unterwirft, kann aber Kant zufolge kein Interesse sein, das den Menschen zu etwas treibt,
d.h. es kann kein Interesse sein, das sinnlich oder pragmatisch bedingt ist. Auch der Absatz 449.24-36 befasst sich mit diesem Interesse. Kant stellt fest, dass wir das ‚Prinzip der Autonomie’ (und damit auch das ‚Bewußtsein eines Gesetzes’ zu handeln) in der Idee der Freiheit nur vorrausetzen, aber dessen ‚Realität’ und ‚objective Notwendigkeit’ (449.26) in einem sinnlich-vernünftigen Wesen nicht ‚für sich beweisen’ könnten. Wir können die Realität des Autonomieprinzips, d.h. die Frage, ob Menschen tatsächlich gemäß diesem Prinzip handeln, noch nicht ‚beweisen’, weil wir noch nicht verständlich machen können, wie es zugeht, dass der Mensch sich dem moralischen Gesetz unterwirft, obwohl Kant in dem (bisher nur negativ als ein nicht sinnlich-pragmatisch definierten) Begriff des Interesses schon einen ersten Hinweis darauf gibt, wie das möglich ist. Da Kant bisher noch über keinen von einem bloß empirischen Interesse abgrenzbaren Begriff des vernünftigen Interesses verfügt, geschweige denn die Legitimität der Annahme eines solches Interesses nachgewiesen hat, ist er auch in diesem zweiten Absatz ‚um nichts weiter gekommen’ (449.31). Wir könnten immer noch nicht erklären, warum die Allgemeingültigkeit einer Maxime das Kriterium unseres Handelns sein soll und worauf wir den Wert einer Handlung gründen, die uns sinnlich oder pragmatisch vielleicht sogar nachteilig ist. Es ist immer noch nicht geklärt, was das für ein Interesse sein soll, das kein empirisches Interesse ist. Kant bestimmt dieses Interesse daraufhin erstmals positiv: Dieses Interesse sei das ‚höchste Interesse’ (449.35) und lasse uns unseren ‚persönlichen Wert’ (449.34) fühlen. Im dritten Absatz, der sich vor der Nennung des Zirkelverdachts mit diesem noch unbestimmten und womöglich fragwürdigen vernünftigen Interesse befasst, nimmt Kant eine weitere negative Abgrenzung vor. Obwohl das zur Diskussion stehende Interesse kein sinnlich oder pragmatisch bedingtes Interesse ist und wir durch dieses Interesse als höchstem Wert unseren persönlichen Wert ‚fühlen’ (450.1) können, darf man
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es nicht mit der ethischen Konvention begründen, dass Moral etwas Wichtiges sei. Auch ein solches Interesse, welches tatsächlich ein Interesse an der Sittlichkeit dokumentiert und nicht auf ein empirisches Interesse zurückführbar ist, könnte nicht verständlich machen,
‚daß’ (450.11) wir uns von allem empirischen Interesse trennen und einen Wert in uns finden, der sinnliche oder pragmatische Nachteile vergütet. Wie (vgl. 450.15) das Letztgenannte möglich ist, können wir durch einen solchen gleichsam bloß konventionellen, vordergründigen Begriff des moralischen Interesses nicht einsehen. Die Erklärung wie das möglich ist, verbindet Kant schließlich mit der Frage, woher der Mensch mit der Verbindlichkeit des Sittengesetzes konfrontiert wird, d.h. letztlich von welchem Ort.
Der zentrale Gehalt von 449.7-36 – 450.1-7 besteht damit in der Frage nach einem nicht sinnlich oder pragmatisch bedingten Interesse an der Sittlichkeit, das mehr darstellt als die bloße Forderung nach Sittlichkeit mit der Begründung, dass diese ein wichtiger Gegenstand sei. In diesem intelligiblen Interesse, das Kant in den drei Abschnitten vor der Nennung des Zirkelverdachts begrifflich vorsichtig zu entwickeln scheint, soll die Antwort auf die Frage liegen, wie es zugehe, dass der Mensch sich dem Prinzip der Sittlichkeit unterwirft, d.h. dass der kategorische Imperativ als geltend vom Menschen anerkannt wird. Die Interpretation von Schönecker (1999, 317-329), diesen Abschnitt im Hinblick auf die Fragestellung nach der Gültigkeit des kategorischen Imperativs (in unserem heutigen Sprachgebrauch) zu lesen, ist nicht ungerechtfertigt, denn Kant stellt scheinbar wirklich die Frage, warum der Mensch sich dem Prinzip der Autonomie unterwerfen soll. In der vierten Sektion scheint er auch eine Antwort auf diese Frage zu geben. Allerdings befasst sich die, zumindest von Kant implizit antizipierte, Beantwortung dieser Warum-Frage in Sektion 3 dann überraschenderweise mit dem Problem, wie es zugeht, dass der Mensch sich dem Prinzip der Autonomie unterwirft, und sie endet schließlich in der Frage, woher der Mensch sittlich verbunden ist. Die Antwort, so muss man im Sinne der vorgeschlagenen Interpretation festhalten, liegt in dem (später durch den Hinweis auf eine Vernunft, die wir wirklich in uns finden, erfolgten) Nachweis der Möglichkeit, als sinnlich-vernünftiges Wesen ein moralisches Interesse an der Sittlichkeit zu nehmen, denn Kants Antwort auf seine Warum-, Worauf und Wie-Fragen besteht in allen drei Absätzen in dem Hinweis auf dieses, Kant zufolge immer noch nicht vollständig bestimmte oder fassbare, Interesse. Die Frage nach der Verbindlichkeit des Sittengesetzes wird von Kant mit der Frage nach einer
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Motivation, dem Sittengesetz zu folgen, in seinen Fragestellungen (‚warum, ‚wie’,
‚worauf’, woher’) geradezu vermischt. Er gelangt über die Frage nach einem Grund scheinbar zu einer Motivation und schließlich zu der Frage nach einem Ort. Es stellt jedoch eine Verkürzung bzw. zu starke Konzentration auf die Sektion 4 dar, diesen Abschnitt allein auf die Frage nach der ‚Gültigkeit des kategorischen Imperativs’ im Sinne der Frage
‚Warum soll ich moralisch sein?’ zu reduzieren. Eine solche Deutung würde Kants mehrmaligen Bezug auf ein noch nicht ausreichend durchsichtig und begründetes moralisches Interesse als Antwort auf seine ‚Warum’-, ‚Wie-’ und schließlich ‚Woher- Frage’ und damit auch die Argumentationsstruktur der drei Absätze in 449.7-36 – 450.1-17 zu sehr vernachlässigen. Aufklärung über diese scheinbar sehr heterogenen Fragen und Kants Argumentation in diesen Abschnitten lässt sich erst durch eine nähere Betrachtung des ‚Interesses’ gewinnen, mit dem sich Kant hier befasst. Dabei wird sich zeigen, dass Kant es seinen Lesern in der dritten Sektion aufgrund seiner rhetorisch geprägten Argumentations- und Ausdrucksweise grundlos schwer macht: Die Theorie des Gefühls der Achtung, die Kant hier scheinbar erstmalig tastend zu entwickeln scheint, und die eine (Teil-)Antwort auf die verwirrende Frage nach der Gültigkeit/Geltung/Verbindlichkeit und der damit verbundenen Frage nach einer sittlichen Motivation und Erkenntnis bereithalten soll, hat Kant in der ersten und zweiten Sektion schon wesentlich deutlicher expliziert. Für das Verständnis der dritten und vierten Sektion kommt noch erschwerend hinzu, dass Kant dem moralischen Interesse bzw. dem Gefühl der Achtung an diesen Stellen zumindest explizit keine Funktion zuzugestehen scheint. Der Terminus ‚Achtung’ oder ‚Interesse’ tritt erst in der fünften Sektion wieder auf, und dort auch nur im Zusammenhang mit einer Grenzbestimmung des Anspruches der praktischen Vernunft – was die jenem Theorieelement bereits zugestandene Funktion wieder einzuschränken scheint. Allerdings nimmt Kant die Achtung, wie wir später sehen werden, implizit die ganze Zeit über in Anspruch. Immer, wenn er im Verlauf der dritten, vierten und fünften Sektion nach seinem Rekurs auf ein die Freiheit legitimierendes Vermögen, das der Mensch ‚wirklich in sich findet’ (452.7), von einem ‚Erkennen’ (452.27, 453.12, 454.3) oder einem ‚Bewusstsein’
(453.20, 455.4, 457.5, 457.22, 458.23, 459.14, 461.24) des Sittengesetzes spricht, ist dieses
‚Erkennen’ oder ‚Bewusstsein’ durch das Gefühl der Achtung erlangt.
Die umfangreichste Erläuterung zur Funktion des moralischen Interesses in Form des Gefühls der Achtung findet sich in der bereits analysierten Passage in 401.21-34. Kant
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definiert das moralische Interesse als Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz auf folgende präzise Weise:
Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche bloß das Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze ohne Vermittelung anderer Einflüsse auf meinen Sinn bedeutet. Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subject und nicht als Ursache desselben angesehen wird. Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werthe, der meiner Selbstliebe Abbruch thut. Also ist es etwas, was weder als Gegenstand der Neigung, noch der Furcht betrachtet wird, obgleich es mit beiden zugleich etwas Analogisches hat. Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz und zwar dasjenige, das wir uns selbst und doch als an sich nothwendig auferlegen. Als Gesetz sind wir ihm unterworfen, ohne die Selbstliebe zu befragen; als von uns selbst auferlegt, ist es doch eine Folge unsers Willens und hat in der ersten Rücksicht Analogie mit Furcht, in der zweiten mit Neigung [...]. Alles sogenannte moralische Interesse besteht lediglich in der Achtung fürs Gesetz (401.21-34, Hervorh. v. Vf.)
Anders als in der dritten Sektion, in der Kant das dramaturgische Geschehen dadurch erhöht, dass er den Anschein erweckt, das Sittengesetz könnte möglicherweise ein Hirngespinst sein, verrät diese Passage, dass Kant selbst tatsächlich nicht davon ausgeht, dass das Sittengesetz in irgendeiner Weise fragwürdig ist, denn ich erkenne dieses Gesetz ja unmittelbar, und zwar durch das Gefühl der Achtung, welche das Bewusstsein der Unterordnung meines Willens ohne weitere sinnliche Einflüsse unter das Gesetz darstellt. Der Wille des Menschen wird unmittelbar durch das Gesetz bestimmt, und zwar durch das Gefühl der Achtung vor diesem Gesetz. Warum sollte also die Gefahr bestehen, dass das Sittengesetz nur ein Hirngespinst sei, wenn wir seine Geltung doch unmittelbar erkennen? Die Achtung hat dieser Passage zufolge also nicht nur eine motivationale Funktion, sondern auch eine moralepistemologische: Das unmittelbare Bewusstsein des Sittengesetzes hat der Mensch als sinnlich-vernünftiges Wesen qua Gefühl der Achtung. Diese Passage ist für die Analyse von 449-7-36 – 450.1-17 in hohem Maße aufschlussreich, denn Kant bringt auch hier den Begriff des moralischen Bewusstseins in einen Zusammenhang mit dem Begriff des moralischen Interesses bzw. der Achtung. Kant hat in 449.7-8 daraufhin hingewiesen, dass sich aus dem Begriff der Freiheit und Autonomie auch (die Idee) des ‚Bewußtseins eines Gesetzes zu handeln’ (449.7-8) schließen lässt. Diese Idee eines Bewusstseins des Sittengesetzes ‚floß’ (449.7) aus diesen Ideen, d.h. zur der Annahme von Freiheit und Autonomie muss auch die Idee einer
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Erkenntnis oder eines Bewusstseins des selbstauferlegten Handlungsgesetzes gehören, unabhängig von der Beantwortung der Frage, ob es ein solches Bewusstsein tatsächlich gibt. Kurz darauf fragt Kant, warum (vgl. 449.11) sich der Mensch dem Autonomieprinzip unterwerfen soll, und er formuliert das Desiderat des Nachweises einer Möglichkeit, an der Sittlichkeit ein moralisches Interesse zu nehmen. Gemäß 401. 34 besteht ‚[a]lles sogenannte moralische Interesse [...] lediglich in der Achtung fürs Gesetz’. Also darf man in diesem Zusammenhang in Bezug auf das, was Kant zufolge an dieser Stelle noch aussteht, sagen: Wenn der Mensch als sinnlich-vernünftiges Wesen (durch Achtung) ein Bewusstsein des Sittengesetzes hätte und zugleich motiviert wäre, sich sittlich zu verhalten, dann könnte man die Frage beantworten, wie es ‚zugeht’ (449.16), dass der Mensch sich dem sittlichen Gesetz unterwirft; dass ‚der Mensch dadurch allein seinen persönlichen Wert zu fühlen glaubt, gegen den der eines angenehmen oder unangenehmen Zustandes für nichts zu halten sei [...] (449.36-450.1-2, Hervorh.v.Vf.); ‚daß wir uns von diesem [empirischen Interesse] Trennen, d.i. uns als frei im Handeln betrachten [...] [und] ‚wie dieses möglich sei, mithin woher das moralische Gesetz verbinde’ (450.11-17). All diese Aspekte der Einsicht in die Verbindlichkeit des Sittengesetzes können wir durch eine bloße Begriffsanalyse nicht einsehen, weil diese keine ‚Kritik des Subjekts’ darstellt und damit auch keine Rückschlüsse darauf enthält, wie die Nötigung eines sinnlich-vernünftigen Wesens durch das moralische Gesetz möglich ist. Kant hat dieser Problemstellung leider weitaus mehr Raum geschenkt als ihrer Beantwortung. Die Antwort fällt unbefriedigend knapp aus: Sie liegt in dem Hinweis auf die praktische Vernunft und ihre Ideen, die der Mensch wirklich in sich findet. Zu dieser Vernunft gehört auch schon in der GMS das Gefühl der Achtung, welches hier als moralisches Interesse firmiert.
IV.
Die Theorie der Achtung hat in der GMS bereits dieselbe Funktion wie in der KpV: Durch Achtung erkennt der Mensch die Geltung des Sittengesetzes. Diese Erkenntnis bedarf keiner weiteren zusätzlichen Begründung, denn sie ist, wie Kant bereits in der GMS (so wie später in der KpV) hervorhebt, ‚unmittelbar’. Ein weiterer wichtiger Befund der vorrangegangenen Untersuchung besteht in dem Umstand, dass Kant den Begriff der
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Achtung (auch dies ließe sich in der KpV nachweisen) und den Begriff des moralischen Interesses synonym verwendet: Wenn Kant den Begriff der Achtung benutzt, ist damit das moralische Interesse gemeint, und wenn er die Wendung „moralisches Interesse“ verwendet, dann ist damit Achtung gemeint. Kants Analyse unterschiedlicher Formen des Interesses, welche letztlich auf die Notwendigkeit eines reinen moralischen Intereses als eines Aspekts der Vernunft hinausläuft, die wir wirklich in uns finden, darf also nicht als die Frage nach der Gültigkeit des kategorischen Imperativs verstanden werden. Kants wiederholte, teilweise verworrene Fragen in 449.7-36 – 450.1-17 (‚Wie es möglich sei, dass der Mensch sich dem moralischen Gesetz unterwirft’ etc.) dürfen nicht so verstanden werden, als ob damit bloß das genannte Projekt einer Abgrenzung des sinnlichen Interesses oder des bloß konventionellen Interesses an der Sittlichkeit von einem ganz spezifischen, reinen moralischen Interesse (der Achtung) gemeint sei. Kant exponiert damit vielmehr eine Frage, die erst in der vierten Sektion durch den sogenannten ontoethischen Grundsatz beantwortet wird. Es geht in 449.7 -36 – 450.1-17 nicht um die Frage, ob eine Form des Interesses allgemein von allen anderen Formen des Interesse-Nehmens abgrenzbar sei, sondern vorrangig um die Frage, warum das Subjekt angesichts eines möglichen Widerstreits zwischen einem sinnlichen Wollen und einem rein vernünftigen Wollen dem rein vernünftigen Wollen den Vorrang gibt. Dieses Problem kulminiert letztlich in der Frage: ‚Warum soll ich moralisch handeln (und nicht etwa rein sinnlich bedingt)’? Wie ist es möglich, dass das vernünftige Wollen z.B. rein sinnliches Wollen übertrumpft? Kant fragt hier in explikativer Absicht allein nach dem in der GMS seit 401 wohlbekannten Gefühl des moralischen Interesses bzw. der Achtung, das hier in einem rhetorisch angelegten Fragespiel nochmals exponiert wird. Er will aber nicht auf das metaethische Problem in Form der skizzierten Frage ‚Warum moralisch sein?’ hinaus, welche dann Interpreten wie Schönecker zufolge erst in der vierten Sektion einer Beantwortung zugeführt würde. Kants Frage nach dem sittlichen Interesse ist letztlich beantwortbar, und zwar wenn auf das moralische Interesse, die Achtung als Aspekt der Vernunft, die wir wirklich in uns finden, rekurriert werden kann. Die Frage ist bloß auf eine bestimmte Weise nicht beantwortbar, d.h. sie kann bloß „auf solche Art“ (450.16) nicht beantwortet werden, also nicht durch den Rekurs auf die Formen menschlichen Interesses, die dem Interesse am Sittengesetz im konventionellem Sinne bzw. allem anderen menschlichen Interesse entspringen. Dass wir uns bestimmten Gesetzen unterwerfen sollen, könnte als Frage
CON-TEXTOS KANTIANOS
182 International Journal of Philosophy
N.o 7, Junio 2018, pp. 159-183
ISSN: 2386-7655
Doi: 10.5281/zenodo.1298716
Das unmittelbare Bewusstsein des Sittengesetzes
formuliert auch in folgendem schlichten Sinne verstanden werden: Wie ist es möglich, dass wir überhaupt unter einem Sollensanspruch stehen? Darunter muss nicht zwangsläufig die erst noch geltend zu machende Vorrangstellung des Sittengesetzes verstanden werden, das noch nicht als alle anders bestimmten Formen des Wollens übertrumpfend erkannt ist. Das Sollen muss in GMS III nicht noch durch ein höherrangiges ontologisches Prinzip bewiesen werden, sondern es ist dadurch erklärbar, dass der Mensch ein rein moralisches Interesse am Gesetz hat. Der Verweis auf dieses Interesse, die Achtung, ist als Erklärung von Kants ‚Fragen’ völlig ausreichend. Allein die Frage nach der Geltung des Sittengesetzes und seine Anerkennung durch das moralische Interesse stehen in der dritten Sektion im Mittelpunkt, nicht aber die anspruchsvollere Frage nach der Berechtigung dieser Erfahrung
Allison, H. E. (2011): Kants Groundwork of the Metaphysics of Morals, Oxford/New York.
Ludwig, Bernd: “Über drei Deduktion in Kants Moralphilosophie - und über eine vierte, die man dort vergeblich sucht”, Kant-Studien 2018, 109(1), S. 47-71.
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