Kant ist kein Rassist
Volker Gerhardt im Gespräch mit Osman Choque
Kant Is Not a Racist
Volker Gerhardt in Conversation
with Osman Choque
Osman Choque-Aliaga[*]
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutschland
Zusammenfassung
2024
jährt sich der Geburtstag Immanuel Kants, dem neben Hegel, Marx und
Wittgenstein wohl bekanntesten deutschen Philosophen, zum 300. Mal. In jüngster
Zeit gab es eine Reihe von Veröffentlichungen, in denen behauptet wurde, Kant sei
ein „Rassist“ gewesen. Was ist von diesen Vorwürfen zu halten? Diese Frage haben
wir Volker Gerhardt, dem Initiator und Mitherausgeber der neuen
Akademie-Ausgabe der Werke Kants gestellt. Er lehrt als Seniorprofessor an der
Humboldt-Universität zu Berlin.
Schlüsselwörter
Kant,
Rassismus, Menschheit, Rasse
Abstract
The
year 2024 marks the tercentennial anniversary of Immanuel Kant’s birth,
probably the best-known German philosopher alongside Hegel, Marx
and Wittgenstein. Recently, there has been a number of
publications claiming that Kant was “racist”. What is to be made of these
accusations? We put this question to Volker Gerhardt, the initiator and
co-editor of the new Akademie-Ausgabe of Kant’s works. Gerhardt works as
senior professor at the Humboldt University of Berlin (HU Berlin).
Keywords
Kant,
racism, humanity, race
Osman Choque: Vielen Dank, Herr Gerhardt, dass Sie sich bereit erklärt haben, etwas zu
der in Deutschland kontrovers diskutierten Frage nach Kants „Rassismus“ zu
sagen.
Volker Gerhardt: Die Frage hätte sich mit etwas mehr Kant-Kenntnissen und
im Bewusstsein des historischen Abstands zwischen Kant und unserer Gegenwart
leicht beantworten lassen. Doch die zurecht bestehende Empörung über den
Polizeimord an George Floyd im Mai 2021 in Minneapolis ließ die Gemüter nicht
zur Ruhe kommen. Hinzu kommt, dass es in Nachkriegs-Deutschland seit den
Verbrechen an den Juden eine gesteigerte Sensibilität für das Rassismus-Problem
gibt. Und so ist man alarmiert, sobald der Verdacht auftaucht, dass es auch
andere und vielleicht schon viel früher auftretende Formen der Missachtung,
Verunglimpfung und Verfolgung Andersdenkender gegeben hat.
Obgleich es in Deutschland keinen Sklavenhandel und keine
nennenswerten Populationen schwarzer Menschen gab, hat es gewiss auch hier
rassistische Vorurteile gegenüber Schwarzen gegeben. Politisch wirksam wird
diese Variante des deutschen Rassismus aber erst in Verbindung mit dem
Kolonialismus, an dem sich die preußische Regierung seit 1871 massiv beteiligt
hat. Ob davon hundert Jahre zuvor in der weltoffenen Handelsstadt Königsberg
etwas zu spüren war, wissen wir nicht. Auch von möglichen Aversionen gegenüber
den schwarzen Seeleuten, die dort auf englischen, holländischen und
französischen Handelsschiffen Dienst taten, ist mir nichts bekannt. Und doch
hat der Verdacht die Gemüter erregt.
O. Ch.: Was
können Sie sagen?
V. G.:
Kant ist 1724 in Königsberg geboren und dort 1804 gestorben. Von kurzen
Aufenthalten in der näheren Umgebung abgesehen, hat er die Stadt niemals
verlassen. Wir wissen, dass es starke konfessionelle Gegensätze gab, die Kant
zuwider waren. Wir wissen auch von Vorurteilen gegenüber den damals so
genannten „Zigeunern“ und auch gegenüber Juden. In beiden Fällen ist gut
dokumentiert, dass Kant die Vorurteile nicht teilte, obgleich er den strikten
Gesetzesglauben der Juden in seiner Religionsschrift kritisierte. Diese Kritik
wird ihm gelegentlich als Antisemitismus zur Last gelegt; nur die Fakten
sprechen dagegen und die zahlreichen jüdischen Kant-Interpreten, teilen diese
Ansicht nicht.
O. Ch.: Wenn
das so ist, wie Sie es schildern: In welcher Form hatte Kant dann überhaupt mit
den Rassismus-Problem, zu tun?
V.G.: Bei
Kant kommen die schwarzhäutigen Menschen nur als Thema in wissenschaftlichen
Abhandlungen vor, für die sich der junge Professor interessiert, als er ab 1770
beginnt, sich mit der Anthropologie zu befassen. Diese Studien haben tiefe
Spuren in seinem Werk hinterlassen. Das belegt seine mehrfach wiederholte
Feststellung, alle Fragen der Philosophie liefen letztlich auf die eine Frage
hinaus: „Was ist der Mensch?“
1772 war Kant (vielleicht sogar weltweit) der erste, der
Vorlesung über Anthropologie in pragmatischer Hinsicht hielt. Nahezu dreißig
Jahre lang hat er regelmäßig diese ständig erweiterten Vorlesungen gehalten.
Die Notizen und Mitschriften seiner Hörer können wir heute in den Werken Kants
nachlesen.
O. Ch.: Und
hier hat er sich „rassistisch“ geäußert?
V. G.: Ja,
so kann es erscheinen, wenn man heutige Maßstäbe anlegt. Doch man muss gleich
hinzufügen, was viele heutige Leser übersehen: Kant ist nicht unser
Zeitgenosse! Er hat zehn Generationen vor uns gelebt. Zu seiner Zeit galt es
nicht als verletzend, einen Menschen mit schwarzer Hautfarbei als „Neger“ zu
bezeichnen. Denn „Neger“ war ja nur die deutsche Übersetzung des lateinischen
Ausdrucks von „niger“, was nichts anderes als „schwarz“ bedeutet. Heute gilt
das als Schimpfwort, weil es durch den Missbrauch im Gang der letzten
zweihundert Jahre dazu geworden ist. Zu Kants Zeiten war das aber nicht mehr
als ein wertfreier Ausdruck, so wie man von „weißen“ Menschen sprach, ohne damit
eine Abwertung zu verbinden.
Es kann überdies als sicher gelten, dass es Kant nicht um
eine Abwertung geht, wenn er in einer wissenschaftlichen Abhandlung von
„Negern“ spricht. Das zeigt sich schon darin, dass er viel Positives über die
Naturverbundenheit der schwarzen Menschen sagt und ihr freundliches Gemüt oder
ihre Verlässlichkeit und Ausdauer bei der Arbeit hervorhebt. Allerdings sagt er
auch manches über ihre vielen heutigen Lesern bloß als „dumm“ erscheinende Gutgläubigkeit
oder über ihre von Europäern für naiv und primitiv gehaltene Naturreligion.
Kant aber erklärt sie als Ausdruck einer Naturnähe, die wir als Europäer
verloren haben. In alledem siedelt er sie offenkundig auf einer niederen
Kulturstufe an. Das empfinden wir heute als abschätzig. Das empört uns heute
ebenso wie die Tatsache, dass er Äußerungen aus Berichten anderer Autoren
zitiert, die abwertende Ansichten über die Schwarzen enthalten.
O. Ch.:
Aber sind solche Äußerungen nicht ein Beweis für Kants Rassismus (vgl. Lerusi,
2021: 33 ff.; siehe dazu Polo, 2022: 369)? Urteilt er nicht aus der sich
überlegen fühlenden Position eines weißhäutigen Europäers?
V.G.: So
kann es erscheinen, wenn wir nicht beachten, worum es Kant in seinen Vorlesungen
geht: Er sucht die auf einander folgenden Kulturstufen zu erfassen, über die
sich die Menschheit im Lauf der Jahrtausende, von höchst unterschiedlichen
Ausgangsposition aus, entwickelt hat und, wie er hofft, auch weiter entwickeln
wird. Da stellt er in Rechnung, dass die Menschen, die unter dem heißen Klima
der Tropen oder wie die (zur Zeit Kants noch „Eskimos“ genannten) Inuits oder
Inupiats im arktischen Winter leben.
Wenn wir den historischen Abstand und die Schwierigkeit
exakter Verständigung nicht beachten, kann man den Eindruck haben, Kant urteile
aus angemaßter Überheblichkeit des Mitteleuropäers. Das klingt dann wie ein
eurozentrischer „Rassismus“, der nur die weißen Bildungsbürger bevorzugt. Wir
müssen aber bedenken, dass Kant seine Überlegungen zur schrittweisen
Entwicklung der menschlichen Kultur letztlich ausdrücklich auf alle Menschen
bezieht. Sein Programm der Aufklärung schließt alle Menschen ein und lässt sich
nicht als „Rassismus“ deuten. Solange wir das nicht unterstellen, verstehen wir
nichts von dem, worum es Kant als Philosophen geht.
O. Ch.: Von
„Aufklärung“ und „Mündigkeit“ eines jeden Menschen spricht Kant erst nach
Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft 1781. Hat er denn schon vorher
so gedacht?
V. G.: In
der Tat, das hat er. In einer Vorlesungsankündigung von 1765 hat er seinen
Studenten erklärt, was das Besondere an der Philosophie ist. Es gehe dabei
nicht darum, viel zu wissen – so wichtig das Wissen auch ist. Entscheidend sei
es, „selbst denken“ zu können. Und dieses „Selbstdenken“ des Philosophen
erklärt er zwanzig Jahre später zum Prinzip der Aufklärung, dem jeder Mensch
(Männer wie Frauen) so nahe kommen sollen wie möglich. Als Philosoph bemüht
sich Kant um eine Empfehlung für jeden Menschen und somit über die Menschheit
überhaupt. Ein „Rassist“ könnte so nicht reden.
O. Ch.: Die
Rede von der „Menschheit“ klingt in den Ohren der meisten Menschen ziemlich
abstrakt, vielleicht sogar verlogen.
V. G.: Die
Philosophie muss an allgemeinen Begriffen denken und reden. Aber sie sollten
anschaulich sein und auch konkret sprechen können. Wie Kant das von Anfang
gelingt, hat er schon in seinem ersten aus eigenem Impuls geschriebenen Buch,
der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 vor Augen
geführt. Weiter kann man sich gar nicht von der Menschheit entfernen. Aber
indem er seine Gedanken in fernste Zeiten und in die Weiten des Universums
schweifen lässt sucht unter anderem auch nach einer evolutionären Erklärung für
die Entstehung der Menschheit auf der Erde. Kant glaubt Anzeichen für die sich
in Jahrmillionen vollziehende Entstehung des Lebens, also auch der Pflanzen und
Tiere, zu erkennen und meint sagen zu können, dass der Mensch zu den Lebewesen
gehört, die erst in den letzten Jahrhunderttausenden hinzugekommen sind. Doch trotz
ihrer erstaunlichen kulturellen Entwicklung werden sie eines Tages, wie alles
Lebendige, wieder von der Erde verschwinden, noch bevor die Erde in die Sonne
stürzt und verglüht.
Für die Naturwissenschaftler seiner Zeit war das keine
Neuigkeit; sie waren längst dabei, der Entstehung des Menschen nachzugehen und
fragten sich, ob es einen einheitlichen Ursprung der Menschheit oder ob es
verschiedene Stammväter der Menschheit gibt. Die „Rassenfrage“ spielte dabei
eine erhebliche Rolle: So galten die Unterschiede in Körperbau, Hautfarbe,
Verhalten und Lebensweise der Menschen einigen Forschen als Indizien der von
Anfang an bestehenden Unterschiede zwischen den Menschen, die sich im Lauf der
Jahrtausende erhalten und vielleicht in der Form der Gegensätze zwischen den
„Rassen“ vertieft haben.
Doch Kant war dieser Auffassung nicht! Er hielt es für
wahrscheinlicher, dass alle Menschen, so unterschiedlich sie auch erscheinen,
allesamt einem einzigen Ursprung entstammen und somit alle zu einen einzigen
„Familie“ gehören! Für diese Auffassung die Kant immer wieder betont, sprechen
inzwischen auch die Ergebnisse der modernen Genanalyse. Nur glaubte Kant
bereits 200 Jahre vorher, dafür auf einen viel naheliegender liegenden Beweis
nennen zu können: Alle Menschen, ganz gleich wie groß ihre Unterschiede in
Herkunft und Aussehen auch sein mögen, können Kinder zeugen und damit unter
Beweis stellen, dass sie zur gleichen Gattung gehören. Auch das kann man eine
uns allen ziemlich naheliegende „genetische“ Beweisführung nennen.
O. Ch.:
Wenn das stimmte, müsste man Kant dann nicht das Gegenteil eines „Rassisten“ nennen?
V. G.: Das
meine ich ja: Kant ist kein Rassist! Damit aber nicht genug, denn Kant hat
schon früh die Ansicht vertreten, dass die Unterschiede im Aussehen und Ver halten
der Menschen, ihren Grund nicht in der „Genetik“, sondern in den geographisch
bedingten Unterschieden zwischen den Lebensweisen auf der Erde haben. Sie sind
somit, wie wir heute sagen, ökologisch bedingt und kulturell verfestigt. Doch in
dieser Form können sich mit der Änderung ihrer Lebensumstände auch wieder
verlieren. Wie schnell das gehen kann, führt uns die sogenannte Globalisierung
vor Augen.
Doch viel wichtiger als diese längst durch die Biologie
und durch die Kulturtheorien belegten Einsichten über die Herkunft und die
Entwicklung der menschlichen Gattung sind Kants Schlussfolgerungen, die er als
Theoretiker der Vernunft daraus gezogen hat: Mit ihren Fähigkeiten, begrifflich
zu erkennen und nach Prinzipien zu handeln, sind alle Menschen längst als
prinzipiell gleichwertig anzusehen. Als moralische Wesen sind sie darin gleich,
dass sie die „Menschheit in ihrer Person“ zu achten und deshalb auch jeden
anderen Menschen in dieser seiner Menschheit zu respektieren haben.
Darauf gründet Kant das „Menschenrecht“, das allen
Menschen überall auf der Erde zusteht. Alle Menschen begreift er, gerade auch
in ihren Unterschieden, als „Weltbürger“. Und auf sie ist seine Theorie eines
weltweit zu sichernden Friedens gegründet.
O. Ch.: Was
heißt das für Sie (vgl. Gerhardt, 2022)?
V. G.:
Nachdem Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft, zu dem eigenständigen
Philosophen geworden war, als den wir ihn kennen und schätzen, hat er sich zum
schärfsten Kritiker prinzipieller Ungleichheit zwischen den Menschen entwickelt.
Er hat den Kolonialismus, den Rassismus, dann auch bald der Feudalismus
verurteilt und ist darüber Republikaner und damit in seiner letzten Schrift,
der Metaphysik der Sitten, auch zum erklärten Demokraten geworden. So verdanken
wir ihm die bis heute unübertroffene Begründung der auf Freiheit und Gleichheit
beruhenden Menschenrechte. Und jeder, der heute den Rassismus kritisiert, muss
sich dabei der Argumente bedienen, die in ihrer prägnantesten Form von Kant
entwickelt worden sind.
Berlin, 18. 10. 2022
Bibliografie
Polo,
C. (2022), „Immanuel Kant, ,La cuestión de las razas‘“, Con-Textos
Kantianos. International Journal of Philosophy, Nr. 15, S. 368–371.
Lerussi,
N. (2021), „Kant y la cuestión de las razas“, in: Kant, I., La cuestión de
las razas. Seguido de Georg Forster „Algo que añadir sobre las razas humanas“,
Lerussi, N. / Sánchez-Rodríguez, M. (Hg.), Abada, Madrid, S. 7–99.
Gerhardt, V. (2022), „Kant als Theoretiker der Humanität“,
Information Philosophie, Nr. 1, S. 6–15.
[*] Doktorand an der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg und Stipendiat des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst). E-Mail:
osman.choque@philosophie.uni-freiburg.de