Werte, Güter und Zwecke in
Kants Moralphilosophie
Values, Goods and Ends in Kant’s Moral Philosophy
Felix Maiwald·
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn,
Deutschland
Buchbesprechung
von: Horn, Christoph/dos Santos, Robinson (Hg.), Kant’s Theory of Value (Kantstudien-Ergänzungshefte 219), Berlin/Boston, Walter de Gruyter, 2022,
292 pp. ISBN 978-3-11-079598-1.
Es ist ein Wesensmerkmal der Kantischen Moralphilosophie,
dass die Frage danach, was eine gelingende menschliche Lebensführung ausmacht,
nicht anhand eudämonistischer Faktoren beantwortet werden kann: das Konzept der
Handlung aus reiner Pflicht schließt sämtliche materialen Interessen, die sich
auf die Erlangung von Glückseligkeit richten, von der Moralphilosophie aus bzw.
misst ihnen eine nachrangige Bedeutung bei. Insofern hierunter alle diejenigen
Interessen fallen, die zwar unter bestimmten Gesichtspunkten als 'gut' für das
Individuum gelten können, etwa Gesundheit, Wohlstand, allgemein der Genuss des
Lebens, die aber für Kant niemals als schlechthin
gut gelten können, muss sich die
Frage stellen, welcher Status derartigen 'Gütern' in seiner Moralphilosophie
zukommt bzw. in welchem Verhältnis diese zur moralischen Güte stehen. Im Hinblick auf die durchaus
wünschenswerten, wenn auch an die Neigung
appellierenden Annehmlichkeiten des menschlichen Lebens scheint die Kantische
Theorie also ein Defizit in ihren Wertbegriffen aufzuweisen: sie expliziert sie
kaum.
Der im Jahr 2022 als Ergänzungsheft (Nr. 219) zu den ‚Kantstudien‘
veröffentlichte internationale Sammelband widmet
sich in dreizehn Beiträgen nicht nur der systematischen Funktion des
Wert-Begriffs in Kants Moraltheorie, sondern auch seiner kontextspezifischen
Verwendung in den zentralen Passagen der ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘,
der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘, der ‚Metaphysik der Sitten‘ und
kleineren Schriften.
Im Vorwort der Herausgeber Christoph
Horn und Robinson dos Santos wird zunächst eine zwar knappe, für die Lektüre
einzelner Kapitel allerdings sehr hilfreiche Gesamtübersicht über die Themen
der einzelnen Forschungsbeiträge gegeben. Daran schließen sich die Aufsätze von
Gerhard Schönrich (Kant's Conception of
Value - realistic enough?) und Oliver Sensen (Kant's Value Prescriptivism) an, welche sich beide dezidiert dem
Kantischen Wert-Begriff (concept of value) widmen. Ersterer im Spannungsfeld
von Realismus und Anti-Realismus, letzterer in dem von Präskriptivismus und
Deskriptivismus.
Mitherausgeber Robinson dos Santos (Kant
on Moral Value in the ‚Groundwork‘) geht
ausführlich der Frage nach der Funktion des Wert-Begriffs in der
moraltheoretischen ‚Grundlegung‘ nach: der Begriff werde von Kant primär
verwendet, um das Konzept der moralischen Handlung zu qualifizieren und habe
für den Argumentationsgang insgesamt eine sekundäre Bedeutung. Der Begriff des
moralischen Wertes liege der Untersuchung nicht zugrunde, sondern werde erst
aus dem moralischen Gesetz und dem kategorischen Imperativ abgeleitet. Der
Status der moralischen Maximen im Speziellen wird im darauf folgenden Artikel
von Steffi Schadow analysiert (Acting for
a Reason. What Kant's Concept of Maxims Can Tell Us about Value, Human Action,
and Practical Identity). Corinna Mieth und Jacob Rosenthal (Blind Spots in the Formular of Humanity:
What Does It Mean Not To Treat Someone as an End?) untersuchen gemeinsam den
negativen Teil der Menschheit-als-Selbstzweck-Formel: was genau heißt es,
jemanden nicht als ‚Zweck an sich selbst‘ zu behandeln? Zum Abschluss dieser
ersten Gruppe von Aufsätzen über die Kernthemen der ‚Grundlegung‘ untersucht Rocco
Porcheddu (The Relationship between
Dignity and The End in Itself in Kant's ‚Groundwork for the Metaphysics of
Morals‘) den engen Zusammenhang zwischen Würde und Zweck der Menschheit und
argumentiert für das Vorliegen einer konsistenten Verwendung dieser
Begrifflichkeiten bei Kant.
Bei einer zweiten Gruppe von Texten
steht die ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ im Vordergrund. Federica Basaglia (Some Remarks on the Concept of Good in the
Second Chapter of the Analytics in Kant's CPR) analysiert den
Argumentationsgang im zweiten Hauptstück des ersten Buches und fokussiert dabei
den Begriff des Guten sowohl unter seinem materialen als auch unter seinem
metaphysischen Aspekt. Der Ursprung des Guten und des Bösen sei unter Berücksichtigung
des starken Kantischen Formalismus als hyperphysische, nicht-natürliche
Gegebenheit anzusehen. Stephan Zimmermann (The
Moral Value of the Will. The Concepts of Good and Evil in the Second Chapter of
Kant's ‚Critique of Practical Reason‘) erweitert und ergänzt in seinem
Beitrag die Analyse von ‚gut‘ und ‚böse‘ als werthaften Willensbestimmungen. In
besonderem Ausmaß untersucht Zimmermann die sprachliche Ausdrucksweise Kants im
Rahmen der Semantik seiner Zeit und erklärt das gänzliche Fehlen einer
Explikation des Wertbegriffs. Ewa Wyrębska-Đermanović (Kant's Cosmopolitanism and the Value of Humanity – Implications for a
Universal Right to Citizenship) leitet anschließend hinüber zur
Rechtsphilosophie. Ausgehend vom Wertbegriff des kategorischen Imperativs,
welcher den intelligiblen Wert des Menschen als ‚Würde‘ charakterisiert,
interpretiert sie den moralischen Wert der Person anhand des Konzepts des
Weltbürgerrechts ebenso als legalen
Wert. Der kategorische Imperativ gebiete demnach, die universale moralische
Pflicht zugleich als universale Bedingung der personalen juristischen Teilhabe
anzusehen.
Eine dritte Gruppe von Texten fokussiert
anschließend die ‚Metaphysik der Sitten‘, besonders die ‚Rechtslehre‘. Sofie
Møller (‚Honeste Vive‘ and Legal
Personality in Kant's Metaphysics of Morals) stellt der Untersuchung von Wyrębska-Đermanović
eine weiterführende Interpretation des Begriffs der Person zur Seite, welche diesen als gemeinschaftliches Element der
Moral- wie auch der Rechtsphilosophie ausweist: indem der Begriff der Person das
Konzept der moralischen Verantwortlichkeit einschließt, kann dessen sittliche
Konzeption in eine juridische übertragen werden. Beide rekurrieren auf die Würde. Mitherausgeber Christoph Horn (Kant's Problematic Theory of the Value of
Marriage) widmet sich Kants Interpretation von Sexualität und Ehe. Es ist
bekannt, dass Kants Position, nach welcher die Ehe ein sittliches
Vertragsbündnis darstelle, weit überwiegend mit Ablehnung zur Kenntnis genommen
wurde. Im vorliegenden Aufsatz setzt Horn sich ausführlich mit der Kantischen
Vorstellung auseinander, dass juridische Pflichten in eminentem Sinn als
‚Pflichten gegen sich selbst‘ verstanden werden müssen, und kritisiert eben
diesen befremdlichen Anschein des ‚moralischen Solipsismus‘.
Der Beitrag von Guido Löhrer (Is Whatever Diminishes the Hindrances to an
Activity a Furthering of this Activity Itself? Kant on Moral Value from Respect
for the Law) thematisiert den Begriff des moralischen Wertes im
Zusammenhang mit Kants Handlungstheorie. Er analysiert Kants in Analogie zur
Newtonschen Mechanik formulierte Auffassung, dass eine Verminderung des
Widerstandes zu einer Handlung gleichzeitig eine Förderung derselben darstelle,
auf ihre Geltung hin. Diese müsse restringiert werden, da die Kantische Formel
nicht geeignet sei, um Handlungsmotivationen hinreichend zu erklären. Eine
wesentliche Schwierigkeit liege dabei in der Ambiguität der Begriffe hindrance, resistance und furthering.
Den Schlussstein bildet die Untersuchung
von Micha H. Werner (Manipulation and the
Value of Rational Agency), welcher sich mit der Rezeption der Kantischen
Positionen zum Konzept der Manipulation, vor allem bei Robert Noggle, auseinandersetzt.
Diesem wirft er vor, dass seine Position in einem methodischen Subjektivismus
gründe, und hält ihm entgegen, dass sich die Kantische Auffassung auch in einem
intersubjektiven Rahmen verteidigen
lässt.